Freitag, 10. Februar 2012

D-20 PARISER MORGEN 1

entlassen aus dem gestrigen
Tag wie dem Mutterleib,
der längst verfault ist -
was sollte ich jetzt feiern: Ort

oder Stunde ihres Todes,
das Spital, das ich Jahre
danach aufsuchte,
leer und funktionslos geworden,

ohne ihr Zimmer, das Bett
identifizieren zu können?
Atemloses Durchstreifen
im Gedanken, zugleich

voller Neugier auf Überreste
der anderen Leben,
die anderswo wesen, hier nur
Grußkarten zurückließen, Weinreste,

Häkelpölsterchen, Harnflaschen, Briefe,
Familienfotos, Prospekte,
unverbrauchte Medikamente,
Metallgeräte zwischen abbröckelnden

Mauern. Jetzt in der Fremde
ein rotbrauner Haarschwall,
aus dem etwas zu mir spricht,
Mutter und Vogel

(Donnerstag, 1.4.1999, 7.10 Uhr, Paris)

(Erschienen in: Das leere Kuvert, Bibliothek der Provinz, 2002)

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