D-20 PARISER MORGEN 1
Tag wie dem Mutterleib,
der längst verfault ist -
was sollte ich jetzt feiern: Ort
oder Stunde ihres Todes,
das Spital, das ich Jahre
danach aufsuchte,
leer und funktionslos geworden,
ohne ihr Zimmer, das Bett
identifizieren zu können?
Atemloses Durchstreifen
im Gedanken, zugleich
voller Neugier auf Überreste
der anderen Leben,
die anderswo wesen, hier nur
Grußkarten zurückließen, Weinreste,
Häkelpölsterchen, Harnflaschen, Briefe,
Familienfotos, Prospekte,
unverbrauchte Medikamente,
Metallgeräte zwischen abbröckelnden
Mauern. Jetzt in der Fremde
ein rotbrauner Haarschwall,
aus dem etwas zu mir spricht,
Mutter und Vogel
(Donnerstag, 1.4.1999, 7.10 Uhr, Paris)
(Erschienen in: Das leere Kuvert, Bibliothek der Provinz, 2002)