EU-09 NIEMAND
Jeder, der hier ist, kennt mich nicht.
Einige reden, Kinder murmelnd
im Schlaf, mit dem Kopf auf dem Eßtablett.
Euro-Lille. Rauschen im Tunnel. Hin und wieder
Maschinengeräusch, Holpern und Hämmern.
Schlagend entfernen sich Gonesse, die Seufzer der Toten.
Schöner weißer Vogel, der aufflog,
um sofort Feuer zu fangen:
Schock, der alle erfaßt, noch auf dem Kontinent.
Wolframpartikel, das zwölfte Element.
Quarks, Leptonen, Standardmodell:
Billionen Neutrinos, die mich sekündlich durchblitzen,
auch im Rückblick durch die Jahrzehnte,
auf Nietzsche, den Jungen: plötzlich sitzt er hier neben mir,
unmerklich einem Netzhaut-Sternchen entsprungen.
In keiner Nacht des durchsickernden Wahnsinns,
in keiner Postkutsche im Sturm, wie er.
Kein Mensch wie er, nicht Dynamit,
ohne heftiges Erbrechen, nur unter Wasser, im Tunnel.
Etwas Druck in den Ohren, man muß schlucken.
Nicht auf dem Markusplatz, ohne Militärmusik, Austern.
Auch kein Weinender
zu Füßen eines zutode geschundenen Pferds.
Nicht abend-, schattenwärts -
nach Westen, hinein ins vorweggenommene Licht.
So durchsticht die Poren Luft,
sammelt sich als Schwimmkörper darunter.
Kein Triumphzug durch die Waggons
unter einer unsichtbaren Narren- oder Schilehrermütze.
Und die Schwarze Madonna, Mitbringsel aus Brüssel,
die in meinem Wachtraum lächelt,
aus rosa umrahmten Augen,
wird nicht meine Pflegerin sein.
Niemand, den ich kenne, ist hier.
Jeder, der hier ist, kennt mich nicht.
Völlig unspektakulär der Durchstoß:
Ashford, Gebüsch, Felder in Streifen.
Ruhiger Horizont,
besetzt mit Frauen
(Donnerstag, 2.8.2000, 12.55 Uhr, Eurostar, nach Ashford)
(Erschienen in Eurotunnel, Literaturedition Niederösterreich, 2005)
(Blick ins Nebenzimmer: Nullo nullo 11)
Gonesse
25. Juli 2000 16:45 Uhr (offizielle Absturzzeit)
"Ein Überschall-Passagierflugzeug vom Typ Concorde stürzt kurz nach dem Start auf ein Hotel in der Ortschaft Gonesse nördlich von Paris ab. An Bord befanden sich als 109 Passagiere. Unter den Passagieren der abgestürzten Concorde befanden sich nach Angaben der Fluglinie Air France 96 Deutsche sowie zwei Dänen, ein Österreicher und ein Amerikaner.
Ausserdem sind 4 Personen aus dem zerstörten Hotel vermutlich tot. Air France teilte mit, die Maschine habe sich seit dem 23. Oktober 1980 im Besitz der Fluggesellschaft befunden und seitdem 12.000 Flugstunden absolviert. Sie sei regelmäßig gewartet worden, zuletzt erst am Freitag. Die Fluggesellschaft leitete eine Untersuchung über die Unglücksursache ein.
Flug AF-4590 war voll ausgelastet und mit rund 100 Tonnen Kerosin "randvoll" betankt. 185 Tonnen - maximales Startgewicht. Um 16.44 Uhr ließ der Flugkapitän die Bremsen los und zündete die Nachbrenner."