FL-14 Fliege (Notizen)
Im Moment vermische ich Monate und Jahre. Ich erinnere mich nicht, in welchem Jahr ich das Grab Brodskys besucht habe. Ich könnte auch keine Zeichnung davon machen. Das wäre der Test für mein visuelles Gedächtnis gewesen. Ich könnte aber auch nicht das Grab Pounds skizzieren. Es war jedenfalls größer als die anderen in der Umgebung und immergrün überwuchert. Kein Bild, keine Formen, nur die Tatsache der Anwesenheit.
Gleich kommen mir Zweifel, ob ich nicht ein anderes Grab meine. Ich habe mir an so vielen Orten Gräber angesehen, auch die von Schriftstellern, Komponisten und Künstlern. Ich gehe überall auf die Friedhöfe. Aber ich interessiere mich auch für die Müllentsorgung, das Spitalswesen, die Geburtenrate, die Ladenöffnungszeiten usw.
Warum bringe ich Stifte mit Brodsky in Verbindung? Ich habe ein Foto gefunden. Es stammt aus dem Jahr 2004. Schlichter, schlanker, heller Marmor. Oben ein bogenförmige Abschluß, darauf Steinbrocken. Der Name in der Kyrillika – „Иосиф Бродский" – und auch in Lateinschrift: „Joseph Brodsky. 24.5.1940 - 28.1.1996". Unten angelehnt ein Kranz mit goldener Schleife und einem Schriftband, dessen Aufschrift größtenteils von mehreren Blumenstöcken verdeckt wird: gelbe, rosafarbene und rote Blüten. Zu lesen ist nur: „В Е Ч Н А Я ..." Links davon ein eingeschweißtes A4-Blatt, mit einem Farbfoto Brodskys. Oben die Zeile: „Venezia per Brodskij". Und unten auf der Umrandung ein verwittert erscheinender Blumentopf voller Kugelschreiber in verschiedenen Farben.
(14. Dezember 2006, 17:02)
Aber ich finde es wunderbar und berührend, mir diesen Blumentopf und die Menschen vorzustellen, die Brodsky immerzu mit einem Nachschub an frischen Stiften versehen.