FL-18 Fliege (Notizen)

Brendel 3

Auf der Suche nach genaueren Informationen über das Verhältnis von Brodsky und Brendel fand ich einen Artikel im „New York Review of Books“ vom 21.11.1995, mit dem Titel „Beethovens Triumph“. Darin werden zwei Bücher über Beethoven rezensiert:

"'Zuhören in Paris' ist ein originelles Buch voller guter Ideen. Es beschäftigt sich mit der Art und Weise, wie man in Paris Musik hörte, beginnend mit den Opern von Rameau Mitte des 18 Jhs. und endend mit den Kapiteln „Beethoven triumphierend“ und „Das Musikerleben der Romantik“. Johnson verfolgt die Entwicklung der Aufmerksamkeit, den Wechsel von einem Publikum, das während modischer Opern angeregt schwatzte, zu einer Öffentlichkeit, die in religiöser Stille lauschte. Sein Buch ist ein Essay über die Geschichte des ästhetischen 'Empfangs', das heißt, es handelt von der Reaktion des Publikums auf die revolutionären Wandlungen der westlicher Kunstmusik, die während des Lebens von Beethoven stattfanden...“ (5427 Wörter)

Ein Weiterlesen wäre möglich gewesen, wenn ich die elektronische Ausgabe der Zeitschrift zu einem Preis von $ 66,- subskribiert hätte. Variante: für jeden einzelnen Beitrag $ 3,- zu zahlen. Da ich das aber nicht wollte, konnte ich weder Brodskys Gedicht „Via Fumari“ (257 Wörter) noch J. M. Coetzees Rezension von Brodskys Essayband „On Grief and Reason“ (4472 Wörter) lesen.

Doch der Brief Alfred Brendels an die Herausgeber der Zeitschrift ließ sich öffnen:

„Ich bedaure sagen zu müssen, daß Charles Rosens Interpretation von Beethovens Vorgabe zur zweiten Fuge in Op.110 'L'istesso tempo della Fuga — poi a poi di nuovo vivente — nach und nach wieder auflebend' ein Mißverständnis ist... Wenn Beethoven vorgehabt hätte, eine 'allmähliche Beschleunigung' zu verlangen, was er gemäß Rosen tat, hätte er dafür eine andere Formulierung verwendet: etwa 'poi a poi sempre più allegro' (op. 111), oder vielleicht 'poi a poi più vivente'. Das Schlüsselwort in seiner Vorgabe ist 'di nuovo' ('wieder'). Das Stück wird wieder lebendig, ohne daß es mit noch mehr Leben behaucht werden müßte.

'Allmählich lebendiger werdend' ist ein psychologischer Hinweis, der auf alles zutrifft, was in der Musik geschieht. Der Musiker sollte nicht zögern, darauf zu reagieren und ein wenig Dynamik innerhalb des una corda-Bereichs hinzufügen. Alfred Brendel, London, England“

Charles Rosen antwortete:

„Es ist absurd, darauf zu bestehen, daß 'dasselbe Tempo wie die Fuge – langsam lebendiger werdend' – nicht auch als Aufforderung zu einer geringfügigen und allmählichen Beschleunigung des Tempos aufgefaßt werden kann, besonders da die betreffende Seite verlangt, das Hauptthema zu transformieren, zweimal so langsam zu spielen und schließlich zum ursprünglichen Tempo zurückzukehren. Alfred Brendels Lesart ist die traditionelle, und ich bin nicht so töricht zu behaupten, daß Beethoven, hätte er gewollt, daß seine Vorgabe eine Zunahme an Dynamik bedeutete, das nicht eindeutiger angegeben hätte – durch 'poi a poi più forte'.

Jede Entscheidung muß schließlich aufgrund einer Abwägung der Tempoverbindungen des ganzen Werks getroffen werden. Doch ich denke, daß das Hinzufügen von zu vielen dynamische Akzenten zu den vierundzwanzig Takten Beethovens für Pianopedal (mit überhaupt keinen anderen dynamischen Hinweisen) die Einfachheit verlieren würde, von der Prousts Großmutter zu Recht behauptete, daß sie sowohl der richtige Weg sei, eine Beethoven-Sonate zu spielen als auch Besucher zu empfangen und Rindfleisch mit Kartoffeln zu kochen."

Diese kurze, nicht unwitzig ausgetragene Kontroverse über die Interpretation musikalischer Vorgaben hat mich kurz belebt und mein infolge fehlender Praxis schlechter gewordenes Englisch ein wenig aufgefrischt.

(18. Dezember 2006, 20:23)

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