Die Berliner Entscheidung

Samstag, 1. Dezember 2012

DB-035 (15) (Beate kichert)

Beate kichert die ganze Zeit in sich hinein, schaut mit ihren brennendbraunen Augen schräg zu Götz auf, der sich in ihrem Blick sonnt, ohne sich ihr zuzuwenden. Die Männer seien überhaupt sein Problem. Sie meine vor allem ihren Vater, erklärt Götz.

Beate nickt und fixiert mich dabei fragend. Ich werde aber von der Antwort durch ein Klingeln an der Tür befreit. Beate zuckt zusammen und wartet auf die Reaktion von Götz. Der bestreitet, jemanden eingeladen zu haben, und erkundigt sich rasch nach Anrufern während ihrer Abwesenheit. Gestern haben ihn zwei Frauen und ein Mann sprechen wollen. Das seien wahrscheinlich Berufskollegen gewesen, die jedoch als unangemeldete Gäste nicht in Frage kämen.

Wer drängt sich schon am 30. Dezember in eine gerade erst heimgekehrte Familie? Seine Miene verrät, daß er einen Verdacht hat. Er weist zur Tür und verlangt, daß Beate öffnet. Dann erhebt er sich schnell und begrüßt die mit gedämpfter Heiterkeit eintretenden Schwiegereltern deutlich distanziert.

Oskar erfaßt die Situation und will daher nur kurz bleiben. Trotzdem entschuldigt sich Götz schnell mit Hausarbeit und verschwindet im Badezimmer. Der Haushalt sei eben sein ein und alles, sagt Oskar mit süffisantem Lächeln und küßt mich auf die Wange.

Wenn du jetzt ein benennbares Gefühl erwartet hast, muß ich dich enttäuschen. Es entsteht wieder keine Verbindungslinie zur Vergangenheit. Nichts, was an etwas Damaliges anzuknüpfen wäre, was jetzt noch von Bedeutung ist. Aber die Gegenwart ist angenehm. Eine leichte Beschwingtheit, ein Säuseln. Zugleich denke ich, daß es vielleicht nur ein Ausweichen ist. Denn wenn es eine Wahrheit zwischen meinem Onkel und mir gibt, dann kann sie nicht nur Geschichte sein.

Oskars eigenartige Sorgen lenken mich ab: Auf seinem Grundstück am Müggelsee liegt ein Fertigteilhäuschen, noch eingepackt. Er hat bisher keine Lust zum Aufstellen gehabt, besonders nachdem er begriffen hat, wieviel Zeit er dafür aufwenden müßte.

Lydia stimmt ihm zu: Sie wollen doch ihre kurzen Aufenthalte in der Heimat nicht damit zubringen, die Datsche aufzubauen und ständig zu verschönern; sie wollen sich keinesfalls in die Schar der unzähligen kleinbürgerlichen Schrebergartenbesitzer einreihen. Der Kauf sei die Folge einer sentimentalen Anwandlung gewesen, gibt Oskar zu.

Beate nickt zufrieden und horcht in Richtung Badezimmer, wo Götz lärmt und pfeift. Schnell bringt sie das Gespräch aufs chinesische Horoskop. Es erscheine ihr jetzt (zum Jahreswechsel) höchst passend, sich mit der Zukunft zu beschäftigen. Außer unser aller Freund, dem Plan, und der Planerfüllung gebe es ja noch die Sterne. Also in chinesischer Einschätzung sei er ein Schwein, sagt sie, was Oskar geschmeichelt aufnimmt.

Ich betrachte ihn genau: Er verbirgt sich hinter keiner Maske, seine vergangenen Leiden liegen noch immer bloß. Schweine mag er, sagt Oskar, weil sie feinfühlig sind und ein moralisches Empfinden haben. Fast erraten.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

Freitag, 30. November 2012

DB-034 15 (Mein Reisauflauf)

15

Mein Reisauflauf hat die Turbulenzen der Rückkehr der Gastgeber nicht beruhigen können. Denn weder Beate noch Götz (und schon gar nicht die Buben) goutieren diese freundliche Milchspeise: Höflich kauen sie, beherrschen ihre Gesichter. Aber bald vergessen sie auf die Mundbewegungen und lassen die Löffel liegen. Sascha bringt nicht einmal hinunter, was er noch im Mund hat, sondern läßt es mit angewidert hervorquellenden Augen so lange kreisen, bis ihn Götz aufs Klo schickt.

Beate hat eine weitere Abtreibung hinter sich, hat den Fötus ihrer Dissertation, ihrer wissenschaftlichen Karriere geopfert. Und Götz, ganz Ehemann, erklärt für sie, daß sie jetzt physisch schon viel besser dastehe als vor dem Ostsee-Urlaub, obwohl sie von den Strapazen gezeichnet ist.

Dieser Bär von einem Mann neben dieser fragilen Jüdin! Während er strotzt, schrumpft sie! Daß sie das von ihm gezeugte Leben wieder ausgestoßen hat, ist gegen seinen Willen geschehen: Er könnte sich leicht noch weitere Söhne einverleiben, ohne unter ihrer Last zusammenzubrechen.

Unwidersprochen kann er sich als der doppelt Belastete darstellen, und er führt die sofort in Gang gesetzte Waschmaschine, die ausgeräumten Koffer, die blitzblank geputzte Küche als Beweis dafür an, daß wir uns hier auf dem Boden des reformierten Patriarchats befinden. Hier geht der Mann zuhause dem Lebenserwerb nach, betreut nebenbei die Kinder, führt den Haushalt und vertritt die Familie nach außen.

Wohlwollend, gutmütig brummend hat er zuerst Beates Spalt mit seinem Samen gefüllt, dann nicht zulassen wollen, daß man ihr das Gewächs herauskratzt. Trotzdem ist es jetzt zerstückelter Abfall, doch die Siegerin davon so geschwächt, daß Götz ihr ungestraft vorwerfen kann, sie wäre derzeit nicht einmal zur Weiterführung ihrer wissenschaftlichen Arbeit in der Lage.

Götz mit seinen blitzenden, stahlblauen Augen, seinen roten, aufgeworfenen Lippen zwischen den Barthälften wird alles zu ihrer Schonung tun, und Beate wird sich dies gefallen lassen müssen.

Ich kann mir leicht vorstellen, warum sie trotz der Zwistigkeiten um die Abtreibung loyal zu ihm steht. Gleichzeitig rechne ich damit, daß ihr Kampfgeist wieder aufleben wird. So einfach darf nicht entschieden sein, wer oben zu sein hat und wer unten; wem die Lust durchgeht und wen die Ordnung stärkt; wer lockt und wer mit Macht abblockt.

Vom Reisauflauf ist das meiste übriggeblieben. Während ich mich ersatzweise mit größeren Brocken abmühe, kommt Götz jetzt auf meine Frage nach seinem Vater zurück. Nur soviel: Der habe sich kaum um ihn gekümmert. Hätte er sich nicht selbst auf die Füße gestellt und den Kopf unter die Arme genommen, wäre er sicher in der Gosse gelandet.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

Donnerstag, 29. November 2012

DB-033 14 (Mit der U-Bahn zum Straußberger Platz)

14

Mit der U-Bahn zum Straußberger Platz; dann die Karl Marx-Allee runter, an den dortigen Emmentalerbauten vorbei, an den Schlangen vor den Geschäften; von der Karl-Marx-Buchhandlung zur Marchlewitzstraße, dann mit der U-Bahn zur Endstelle Tierpark; schließlich weiter mit der Straßenbahn und den letzten Kilometer wieder zu Fuß mit einem Netz voller Bücher, bei starkem Gegenwind; eine Bewegung, die für Stefan notgedrungen im Schlafzimmer endet, in Beates (oder Götzens) Bett.

Wer welches benützt, hat er nicht herausfinden wollen, und jetzt, wo er sich flachgelegt hat, um die schmerzenden Beine zu entspannen, will er sich nicht erheben, um Fragen nach der tieferen Bettgrube, nach Frauengeruch, nach Flecken – Samen oder Farbe – nachzugehen. Trotzdem kann er sich vorstellen, daß Götz sich manchmal, auf einen kleinen Block, noch etwas mit Pinsel und Farbe notiert, wenn er irgendwann in der Nacht aufwacht, schlaftrunken, und eine Bildidee, eine dunkle, vor sich hat, die sich nicht verflüchtigen soll.
Oder er schläft, weder von Licht noch von Geräuschen aufstörbar, seine sieben, acht Stunden, während die schmale Beate oft längere Zeit wach in der Finsternis neben dem schnarchenden Mann liegt und sich schließlich zum Schreibtischchen schleicht, um sich dort ihre Karteikarten, ein Buch oder eine Zeitschrift zu schnappen und draußen, in der Küche oder im Bad, an ihrer Doktorarbeit weiterzubosseln.

Stefan massiert seine Waden. Als es läutet, springt er auf, schlüpft in die Pyjamahose, geht zur Tür und öffnet. Ein etwa sechsjähriger blonder Bub steht da und zischt empört: Das ist meine Wohnung! Sascha, grinst neben ihm Boris, sein zwölfjähriger Bruder, mit breiten, roten Lippen und einem Bürstenhaarschnitt.

Hinter ihm erscheint Vater Götz: Stefan identifiziert ihn nach den Fotos, die er bei Lenas Vater gesehen hat. Neu ist, daß auch Götz die Haare fast geschoren hat und dadurch so preußisch wirkt, wie er sich wahrscheinlich gar nicht gern einstufen ließe. Vielleicht hält er den Vollbart für den notwendigen Ausgleich zur Beinahe-Glatze.

Er plaziert die Koffer mit dem Schwung eines Athleten gleich neben die Tür des Vorzimmers, reicht Stefan seine Pranke, grüßt knapp und drückt die ihm aus dem Wohnraum entgegenschwingende Lena heftig-jovial an sich, über ihre Schulter hinweg ins offene Schlafzimmer einen Kontrollblick werfend. Wir kommen geradewegs von der Ostsee, sagt Götz offensiv ruhig, willkommen bei uns!

Stefan zieht sich vor soviel Gesundheit, Frische und Kraft sofort zurück und wendet sich kurz der blaß und leidend aussehenden Beate zu, um dann Boris und Sascha beim Abschreiten der Zimmer und Begutachten der Veränderungen zu beobachten.

Plötzlich schreit Sascha: Das war nicht ausgemacht, worauf ihn der Bruder, in Tonfall und Stimme dem Vater ähnlich, zu beruhigen versucht. Der Boris habe einfach seine Autos, seine Matchboxautos genommen, hört Stefan, worauf Götz seinen kleinen Sohn mit dem Hinweis auf das vom Meer mitgebrachte Geschenk für Lena, seine Tante, ablenken will. Außerdem solle er nicht verrückt spielen, wenn Gäste im Haus seien. Er habe diese Fremden nicht eingeladen, antwortet Sascha trotzig.

Stefan, jetzt das vierte männliche Wesen, hält kurz ein fünftes – Josef, sein Erinnerungsbild von Josef – gegen diesen Götz, der es sichtlich genießt, aus seinen beiden Söhnen alles scheinbar Weibliche herauszupressen, das scheinbar Männliche – Ruhe, Gelassenheit, Sicherheit, Stärke, Geistesgegenwart – als Rollenverhalten zu fixieren.

Josef: als Kind, von der Mutter stets zu Höchstleistungen aufgestachelt, steht er auf einem leeren Sockel am Heldenberg Radetzkys, einen roten Apfel als Reichsapfel in der Hand haltend, in Lederhose, grünen Socken, braunen, groben Schuhe, mit einem schnurgeraden Scheitel und einer braunen Schmachtlocke, gewitzter Mutterverführer, Mutterbefriediger; bis er - nach Beginn des Studiums - endlich genug hat, flieht, immer weiter weg, schließlich in Berlin landet, dort Frauen anlockt und abstößt: Keine Beziehung dauert länger als drei Monate, keine Freundin schafft es, Josefs Frauen- und Kinderfeindlichkeit länger zu erdulden.

Stefan beschließt, sich aufs Bett zu legen, weil er von dort aus einen guten Überblick hat. Zugleich aber kann er auf diese Weise zeigen, daß er sich im ehelichen Schlafzimmer der Langs wie zuhause fühlt, daß er die Farben und Gerüche bereits nicht mehr als fremde wahrnimmt, daß er die Standorte der Möbel, die möglichen Raumstimmungen, die Veränderungen des Lichts und der Farben bereits seit ihrer Ankunft aufmerksam registriert, auf sie reagiert hat.
Stefan sieht durch die offene Tür, wie Lena aus dem Rohr zieht, was sie an Essen vorbereitet hat. Der Eindringling fühlt sich pudelwohl. Er korrigiert seinen Satz: Das Pudelwohlsein wird einem von den hauseigenen Eindringlingen sofort wieder ausgetrieben, denn jetzt beginnen diese ein abenteuerliches Hin und Her vom Vorzimmer durchs Wohnzimmer, durchs Schlafzimmer, durch die Küche und kreuz und quer, mit einem unverschämten Getöse, einer unverschämten Selbstverständlichkeit.

Die mitgebrachten Bücher nützen als Ablenkung wenig, weil ja Lenas und Stefans offene Koffer ihre provisorische Niederlassung demonstrieren, die Sessel, auf denen ihre Kleidungsstücke hängen, weshalb nun auch Beates Fürsorge einsetzt, ihr Bedauern, daß man keine Fächer im Kasten für die Gäste freigemacht habe.

Stefan winkt höflich ab und ist dankbar, daß nun Sascha hereinstürzt, sich an sie hängt mit der Frage, was denn ihre Sachen in seinem Zimmer zu suchen hätten, worauf sie sich zur Erklärung genötigt sieht, daß jetzt sie und Götz – solange das Schlafzimmer belegt ist – dort schlafen würden. Dafür dürfe er mit Boris in dessen Zimmer wohnen. Wider Erwarten folgt darauf kein Protestgeheul, sondern nur die Bedingung, daß dann auch der Fernseher im gemeinsamen Zimmer aufgestellt werden müsse.

Kaum sind die beiden draußen, steht auch schon Götz vorm Kasten, rafft, was ihm schmutzig erscheint, heraus und trägt es ins Bad, wo bereits nach kurzer Zeit die Waschmaschine rumpelt.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

Mittwoch, 28. November 2012

DB-032 (13) (Du siehst nun Lena)

Du siehst nun Lena am Ende ihrer Kindheit: kein Hof mehr, keine Gespielinnen, wachsende Brüste, jeden Monat der ziehende Schmerz und das unaufhaltsame Blut; noch immer kein Prinz, der sie aus dem Klassenzimmer entführt.

Und jetzt steigt Lenas Vater, nachdem er sich den Anzug sorgfältig geglättet und Lena den Vortritt gelassen hat, in den Wagen (es ist ein erst acht Monate alter Renault 4 CV). Ohne den Hut abzunehmen, fährt er, bis in der Nähe der Reichsbrücke der Motor abstirbt und nicht mehr zu starten ist, was beide zwingt, zu Fuß nachhause zu gehen.

Plötzlich wendet sich der Vater zu Lena und sagt mit unveränderter Stimme: Ich hoffe, du hast es inzwischen bemerkt - wir sind Juden! Endlich erhält Lena die Antwort auf die nimmermüden Fragen der Lehrer, der Mitschülerinnen und Mitschüler, die prompt auf die Angabe ihres französischen Geburtsorts gefolgt sind.

Zuhause ist man immer mit der Ausrede auf die Kriegsumstände Gesprächen über die Vergangenheit aus dem Weg gegangen, allerdings mit der Zusicherung, bei entsprechender Reife werde Lena mehr erfahren.

Du siehst also Lena, reif für die große Enthüllung, ein zappliges, verstörtes Mädchen mit einem widerspenstigen Bubikopf und einer blutenden Wunde zwischen den Beinen. Du siehst sie mit einem Gesicht, das ein Gemisch aus Stolz und Scham ausdrückt, ihr typisches Schul-, ihr Pausengesicht, wo sie horchend mit dem Rücken zu jenen lehnt, deren Väter Soldaten waren, als solche vermißt oder gefallen sind, während ihr Vater lebt, sichtlich heil dem Krieg entronnen ist, aus dem Krieg ihre Mutter und sie selbst mitgebracht hat.

Sie sind nicht ermordet worden wie die Mehrzahl ihrer Verwandten (das hat sie Nebensätzen entnehmen können). Sie sind nicht wie die Überlebenden ins fremdsprachige Ausland, nach Übersee ausgewandert, sie sind heimgekehrt, gleich im Jahr 45, und in der Heimat untergetaucht.

Du siehst Lena, wie sie mit niedergeschlagenem Blick neben ihrem Vater geht. Dieses Wort Jude muß sie sofort mit dem Wort Nazi zusammenbringen. Denn das Wort Nazi ist ihr im Gegensatz zum Wort Jude aus den Gesprächen ihrer Eltem geläufig: Ihre Wohnung ist nämlich eine Nazi-Wohnung; und die Möbel, die in einer Ecke des Wohnzimmers eingehüllt stehen, sind Nazi-Möbel; und ihr früherer Besitzer, der es nicht für nötig befunden hat, sie abzuholen, ist ein Nazi-Arzt gewesen. Neu ist das Jüdisch-Sein, nicht neu dagegen das Kommunist-Sein.

In der Schule gibt es einen Lehrer, der von den andern immer adrett Gekleideten dadurch absticht, daß er verlottert und ungepflegt daherkommt. Oft betritt er das Schulhaus unrasiert, schlurft mit offenem Mantel durch die Gänge, legt diesen auch während des Unterrichts nicht ab und kümmert sich nicht um kichernde Münder und hämisch auf ihn weisende Finger.

Man sagt, er ist Kommunist. Daher hat Kommunist-Sein für Lena bedeutet: dreckig sein, ausgelacht werden. Andererseits ist ihr Vater weder dreckig noch wird er ausgelacht; im Gegenteil - er stellt eine angesehene Person dar, deren Ruf sie manchmal einsetzt, um feindliche Mitschüler mundtot zu machen.

Das Kommunist-Sein hat der Krieg gebracht, der jetzt in der Familie verleugnet wird. Das Kommunist-Sein ist nie verleugnet worden, aber Lena hat aus den Reaktionen der Umwelt schnell gelernt, daß man doch besser darüber schweigt. Das Jüdisch-Sein ist sowieso nie erwähnt worden, war ein sorgsam gehütetes Geheimnis, vermeintlich zum Schutz des Kindes Lena.

Aber du siehst eine Lena, deren Verwirrung eine Folge des ständigen Verschweigens darstellt. Sie ist jetzt mit ihrem Vater auf der Mitte der Brücke angelangt. Wenige Autos, eine rumpelnde Straßenbahn, graubraunes, schnell fließendes Wasser, trüber Himmel.

Du hörst jetzt die wie gewöhnlich etwas brüchige Stimme des Vaters. Wir Juden sind immer verfolgt worden, sagt er. Aber daran sind wir zum Teil selber schuld. Wir haben uns abgesondert, absondern lassen. Und wir haben uns immer als auserwähltes Volk gefühlt. Wir haben die andern ausgeschlossen, genauso wie sie uns ausgeschlossen haben. Zwischen Nichtjuden und Juden haben wir eine Grenze gezogen, genauso wie die Nichtjuden zwischen sich und uns Juden eine Grenze gezogen haben. Aber wir haben die Nichtjuden weder verfolgt noch ihnen alles Böse in die Schuhe geschoben, noch sie ausrotten wollen.

Dieses Mädchen, das Worte hört, die es nicht hören will, weil sie nicht zu fassen sind, bin ich. Dieses Mädchen von damals steckt noch tief in mir, und es bedarf nur eines falschen Worts, einer verräterischen Geste, um es auftauchen zu lassen. Dieses Mädchen, das noch immer ich bin, schwankt wie damals zwischen Stolz und Angst, Kampflust und Unterwerfung.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

Dienstag, 27. November 2012

DB-031 13 (Unsere Wege trennen sich)

13

Unsere Wege trennen sich, finden zusammen, trennen sich wieder. Der Alexanderplatz ist so groß, von einer solch offenen Weite, daß zwei wie wir einander nicht einmal wie Pünktchen am anderen Ende wahrnehmen können. Ich will Bücher und Schallplatten für meinen Vater besorgen. Natürlich will Stefan auch hier sich nicht anstellen. Es ist mir nur recht: Wegen meiner aufgesparten Explosion wäre sowieso kein gütliches Auskommen mit mir.

Während ich fröstelnd, eingereiht in die auf einen Plastikkorb Wartenden, vor der Buchhandlung stehe und den schnell dahinjagenden Schneewolken nachschaue, erinnere ich mich an Stefans ungläubige Augen, damals auf dem Weg zu Oskars Wohnung. Dorthin schleppte ich ihn mit, nachdem wir miteinander beim Fotografen in der Gegend der Station Jannowitzbrücke, wo wir die Bildstreifen für ein CSSR-Durchreisevisum abholten, bekanntgeworden waren.

Er kam mir zuliebe bereits zum dritten Mal von Westberlin herüber, tappte lachend neben mir her, sichtlich anlehnungsbedürftig, verliebt, und konnte noch immer nicht fassen, daß er hier auf eine Genossin aus Wien gestoßen war, die überdies höchst auffällig ihr Interesse an ihm zeigte.

Auf einmal irritierte mich etwas. Und es war wie immer in einer solchen Situation: Plötzlich stockt mir der Atem, das Blut steigt mir ins Gesicht, aber ich fühle mich nicht. Und dieser lächelnde, molluskenhafte Stefan ist schutzlos dem geifernden Ausbruch dieser lächerlich erregten Lena ausgeliefert, die ihn eines Vergehens, das mit ihm nichts zu tun hat, bezichtigt, ihm erbarmungslos ihre Vorwürfe um die Ohren schlägt, dem Zwang der Wiederholung nicht widerstehen kann, sich zugleich vor einer neuerlichen Liebesniederlage auf das heftigste fürchtend.

Vielleicht will sie nur einer Demütigung zuvorkommen. Vielleicht will sie sich nur nicht verstellen müssen, um sich eine längere Dauer der Zuneigung zu erkaufen.

Lena liebt sich nicht, Lena will nicht geliebt werden, Lena will den Verpflichtungen einer neuen Liebe entgehen. Lena will den potentiellen Liebhaber auf die Probe stellen, wie sie ihr Vater immer wieder auf die Probe gestellt hat.

Obwohl Lena so frei ist, sich hier viel freier als in Wien zu fühlen, siehst du sie jetzt aufgerissen, niedergeschmettert von der Macht ihrer Gefühle. Du mußt sie als Marionette begreifen, die einem hampelmännischen Spiel ausgeliefert ist, weshalb sie sich selbst im Moment nur abgrundtief hassen kann.

In ihrer persönlichen Mythologie hat sie dafür einen Fixpunkt: den Gang mit dem Vater über die Reichsbrücke in Wien, wo sich ihr mit einem Schlag alles bis dahin nur dumpf Geahnte, unter dem sie schon immer gelitten hat, zu einer bitter einleuchtenden Erkenntnis verdichtet.

Sie tritt nun als beinahe Dreizehnjährige vor dich. Du entdeckst sie mit ihrem Vater im Hof einer städtischen Wohnhausanlage jenseits der Donau am Beginn ihres Sonntagsausflugs, diesmal ohne Mutter und Bruder.

Beim Leopoldsberg angelangt, steigen sie rasch hinauf, beinahe im gleichen Tempo, sie stumm, während ihr Vater auf sie einredet, Thema Schule, wozu sie nichts zu sagen hat. Vor knapp zwei Monaten hat die dritte Klasse begonnen, aber Lena hat den Schock des Übertritts von der Volksschule ins Gymnasium, weg vom Schoß ihrer über alles geliebten Lehrerin, noch immer nicht überwunden.

Oben auf dem Plateau des Bergs hält ihr Vater kurz an, um sie (zum wievielten Mal?) auf die Vorzüge der Lage der Stadt Wien hinzuweisen und sich dann gleich an den Abstieg zu machen, wobei er ihr eindringlich ans Herz legt, wieder mit ihm zu lernen. (Ich habe diese väterlichen Nachhilfestunden, den Schrecken dieser Stunden dir gegenüber ja schon mehrmals erwähnt.)

Lenas Konzentrationsschwierigkeiten, wie sie in der Schule häufig aufgetreten sind, verschlimmern sich in der sie bedrängenden Gegenwart ihres Vaters.
Da muß sie gähnen, gähnend zum Fenster hinschauen, worauf ihr Vater sofort in Zorn gerät und sie anbrüllt. Er trägt den Schulstoff mit der furchtbaren Unbedingtheit eines Lehrers vor, was Lenas guten Willen sofort verscheucht.

Du hörst die triefende Pädagogik in seiner Stimme; zugleich hörst du andere Stimmen, süße, die möglichen Obertöne, die Intonation eines Versprechens, dessen Erfüllung noch in der Zukunft verborgen war. Du hörst Lena ihm hundertmal schwören, sie werde ihre Ohren aufsperren, alles willig aufnehmen und sofort zu verstehen.

Zugleich erkennst du ihre ungenauen, unerfüllbaren Sehnsüchte, die Erinnerungen an die Hofspiele, die das Mistkübelhäuschen in ein Schloß verwandeln oder in eine Räuberhöhle, die Klopfstange in ein Sofa oder in einen reißenden Fluß, durch den die schöne Lena von ihrer besten Hoffreundin getragen werden muß, der Heldin, die sie, ohne zu zögern, aus allen brenzligen Situationen befreit.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

Montag, 26. November 2012

DB-030 (12) (Stefan sitzt bereits in der Gaststätte)

Stefan sitzt bereits in der Gaststätte Ecke Leibnizstraße/Dunckerstraße, das leere Glas seines Vorgängers betrachtend, auf dem sich noch Bierschaumreste, Lippen- und Fingerabdrücke befinden, und vermeidet es, Lena anzusehen.

Was ist die Kälte zwischen zwei Menschen gegen die Kälte der Gegenstände, beispielsweise der Schere in Lenas Nähzeug? Diese Schere aus finnischem Stahl hat beide Schenkel so dicht übereinander, daß der untere, der sich dann in einem grellorangefarbenen Plastikgriff mit länglicher Ausnehmung für Zeige- und Mittelfinger fortsetzt, nur einen Millimeter vorragt, während der obere im Bereich der Niete, die zugleich den Drehpunkt darstellt, scharf abknickt und in einen ebenfalls orangefarbenen Plastikgriff mit runder Ausnehmung für den Daumen mündet: diese scheinbar undurchdringlichen Materialien, die sich im trostlosen Denken gleich kalt anfühlen!

Der Gast, der vor Stefan hier gesessen ist, könnte wie einer der Burschen gegenüber mit ihren langen, fettigen Haaren, ihren weißen Nylonhemden ausgeschaut haben; oder wie der freundlich grinsende Pockennarbige neben ihm, der aus seinem offenen Fischgrätmantel heraus genüßlich sein Bier einsaugt.

Der Kellner bringt die Karte, Lena bestellt, Stefan schließt sich an. Wenn Stefan an die Entfernungen innerhalb des Milchstraßensystems denkt, ist er Lena relativ nah. Er könnte sich das Fell, das sie umgibt, oder ihre Kopf- und Körperhaare als Erreger von Wärme vorstellen. Aber er will gar nicht wissen, ob sie wirklich und greifbar neben ihm lehnt.

Es gefällt ihm, sie im Moment zu einem Gegenstand zu machen, etwa zu seinem Bleistift, den er in seiner Jackentasche befingern kann: die Graphitspitze, die sich kalt in seine Zeigefingerkuppe bohrt; der glatte Lackmantel um das etwas wärmere Holz, der ihn zu einer ständigen Wiederholung der verborgenen Drehbewegung animiert; die gerillte Messinghülle für den Radiergummistummel, den er langsam zerbröselt.

Der Typ im Fischgrätmantel verschwindet, der Kellner stellt die Getränke ab und bedauert, daß das Gewünschte heute nicht im Angebot sei; es gebe aber Goldbroiler, Bratwurst oder Sülze.

Lena entscheidet sich für die Bratwurst, Stefan für ein noch nachgeschobenes Rührei mit Spinat. Beides kommt in großen Tellern auf den Tisch, schmeckt würzig und verschwindet fast restlos: Von Stefan eher unachtsam verschlungen, von Lena überlegend eingeführt, bis die Hälfte erreicht ist. Dann kann, als Friedensangebot, ein Tausch stattfinden.

Plötzlich hält Stefan im Kauen inne und sagt: Die Milchstraße ist ein leuchtendes Band, das die Hauptebene eines abgeflachten, linsenförmigen, rotierenden Sternsystems bildet, mit dem größten Sternreichtum im zentralen Kerngebiet, bestehend aus Sternen der Population II, um das sich die Sterne der Population I, die offenen Sternhaufen und die interstellare Materie in Form von flachen Spiralarmen winden. Der große Durchmesser des Milchstraßensystems wird auf 80.000, der kleine auf 15.000 Lichtjahre geschätzt.

Trotz Lenas verständnislosen Blicks beugt er sich vor, um ihren Mund mit einer Serviette von den Eiresten zu reinigen. Lena unterbricht kurz ihren Kauvorgang und gestattet so Stefan, sich wieder als ein durchblutetes Wesen in einem nun nur mehr halbvollen Ostberliner Lokal zu erkennen.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

Sonntag, 18. November 2012

DB -028 (11) (Ich bin bereits beim Geschirrabwaschen)

Ich bin bereits beim Geschirrabwaschen, und Stefans Interesse für alle meine Liebschaften mit älteren Männern, und zwar der Reihe nach, wächst. Er kennt nur Einzelheiten, will die Zusammenhänge erfassen. Er würde mich aussaugen, ließe ich das zu, und wäre trotzdem unzufrieden. Er will mir unter die Haut, aber dort brennt die Vergangenheit, die viel frühere, sie brennt bei jeder unvorsichtigen Bewegung.

Die Attraktivität der älteren Männer fängt bei meinem Vater an und hört bei ihm auf. Hätte ich ein anderes Verhältnis zu meiner Mutter, zu meinem Bruder gehabt, wäre ich sicher nicht so einseitig geprägt. Mein Vater hat immer höchst liberal und großzügig getan (wahrscheinlich nur, um meine Mutter zu übertreffen), war jedoch in Wirklichkeit puritanisch, hatte kleinbürgerliche Ängste und Ziele.

Meine Eltern sind zwar häufig nackt in der Wohnung herumgelaufen, weshalb mir ihr Körper kein Geheimnis war; ihr Innenleben hielten sie mir aber krampfhaft verborgen. Oft hätte ich gerne gewußt, ob sie etwas für mich empfanden und was. Denn Zärtlichkeiten, absichtsvolle Umarmungen waren äußerst selten. Berührungen fanden meist nur auf Gesprächsebene statt, wo ich mich stets unterlegen fühlte, nur mit offenem Mund lauschen konnte, höchst selten einen argumentierenden Widerspruch wagte, was dann diese unbändigen, maßlosen Auftritte und Ausbrüche zur Folge hatte, scheinbaren Haß als Liebesersatz sozusagen, worauf ich mich selbst immer am meisten haßte.

Stefan insistiert auf dem Geheimnis der Älteren, sein Geheimnis als bedeutend Jüngerer unterschätzend. Ich will das nicht verstehen: das gelebte Leben, diese Furchen, diese Falten, diese sichtbare Vergangenheit, diese Last der Erfahrung, die scheinbar überwunden ist; dann diese Wärme, dieses Vertrauen, das langsam aufgebaut wird oder blitzartig da ist.

Ich habe nie gesagt: entweder jung oder alt. Ich habe immer nur meinen Gefühlen nachgegeben, meinen Sehnsüchten nach dem, was mein Vater in mir geweckt hat, aber selbst nicht erfüllen konnte. Damit ist das Thema erschöpft. Deshalb stelle ich eine Liste der Dinge zusammen, die Stefan einkaufen soll.

Was willst du, sage ich abschließend, ich hab mich völlig gesellschaftskonform, völlig unkritisch verhalten: je mehr Kerben das Gesicht eines Mannes aufweist, je mehr Blessuren und Plissees, je blasierter es ist, desto höher ist sein Rang: Sein Fleisch wird erst interessant, wenn es ihm locker von den Knochen hängt; zwar verliert er immer mehr Haare, doch kann er sich jetzt endlich die dezent elegante Kleidung leisten, die ihn strafft, nobel erscheinen läßt und aus der Masse der Arbeitskrüppel heraushebt. Ich hole Besen und Schaufel hinter einem Vorhang hervor und beginne aufzukehren.

Stefan mault, ist aber auch froh, hinauszukommen. Er will hier beides: mich entdecken, wiederentdecken und sich zugleich dem Äußeren, dem Augenschein aussetzen, um (wie er es nennt) seine atmosphärischen Gesellschaftsstudien voranzutreiben. Er sucht den anderen Zustand als Straßenstudent, ewiger Fotograf, der in jedes Detail so vernarrt ist, weil er glaubt, es könne ihm den Zugang zum verborgenen Allgemeinen ermöglichen.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

Samstag, 17. November 2012

DB-027 (11) (Wir hatten damals beide diese Kaffeehausmanie)

Wir hatten damals beide diese Kaffeehausmanie: Da sitzt du, wie auf dem Präsentierteller, in einem weichen ledernen Pfuhl mit dem Rücken zur Wand, hinter dir ein Spiegel bis zum Plafond, in den du aber nicht schaust. Du weißt: Er spiegelt sie alle, die da hereintreten, an dir vorbeidefilieren, auf der Suche nach einem Platz, der ihnen das gleiche Gefühl vermittelt. Und du genießt es, daß sie vorher dich, dann hinter dir den Spiegel und schließlich (einen Augenblick, der sie zutiefst verunsichert), sich selbst sehen müssen als Spiegelung, deren Flüchtigkeit sie starr werden läßt.

Du genießt es, gegen die sich dehnende Zeit und das Unangenehme, das bevorsteht, deine übliche Gedankenvertreibung zu setzen, dein Doppelspiel mittels unauffälliger Muskelarbeit. Während überm Tisch die Grüne Blatt-Lektüre, der Grüne Blatt-Tratsch (damit fühlten wir uns damals ungeheuer elitär!) nach den jeweils kurzen Unterbrechungen durch die Neuankömmlinge fortgesetzt wird, erhitzt du dich (absichtlich nebenbei) durch unmerkliche Stellungsveränderungen so lang, bis die Hitze auseinanderzufließen beginnt, aufsteigt.

Du genießt es, so unauffällig deinen Kaffeehausnachmittag oder -abend zu strukturieren, über halbe Stunden, Stunden hinweg, durch eine Abfolge von Lesehappen, Satzverflechtungen, Aufschauen, Lächeln, Spannen, Loslassen, Abflachenlassen, Anstauen, Auf-die-Spitze-Treiben. Du genießt es, diese Öffentlichkeit zu deinen Intimitäten zu mißbrauchen, steigerst den Mißbrauch durch die Zeugenschaft einer vielleicht wirklich unwissenden, vielleicht auch mit eben solchen Parallelaktionen beschäftigten Vertrauten, wie du Zuschauerin und Aktrice zugleich.

Wenn damals ein Orgasmus nicht mehr zu verhindern war, schickte ich Amanda einfach aufs Klo oder zum Telefon, von wo sie mit neuer Nahrung für ihre Schwärmereien von Bernard zurückkehrte. Daß sie mir schließlich ihre Briefe an ihn, die sie niemals abschickte, zu lesen gab, ließ mein schwaches Interesse in ein erstes Treffen mit diesem Mann ausarten, der sofort sehr geschickt seine Erfahrung einsetzte, um die gemeinsamen Spaziergänge immer näher an die elterliche Wohnung heranzuführen und mich dort (als die Eltern über Pfingsten verreisten) in meinem eigenen Bett zu entjungfern.

Das zusätzlich Aufreizende waren die Verschleierungsmanöver nach allen Seiten, die mich aber in immer größere Abhängigkeit von Bernard und seiner Lebensführung brachten, was meinem Vater nicht verborgen bleiben konnte. Durch seine eifersüchtigen Gegenmaßnahmen steigerte er mein Unglück so ins Maßlose, daß ihm ein längerer Aufenthalt in der französischen Schweiz als das einzig sinnvolle Heilmittel erschien. Dort sollte ich, beschützt von Oskar, auf andere Gedanken kommen, Geld verdienen, meine Französischkenntnisse erweitern.

Die Aussicht auf ein Wiedersehen mit meinem Onkel ließ mich schließlich nachgeben. Aber dieser ist anfangs gar nicht in Genf gewesen, weshalb ich (aus Rache für alles, was mir Männer bisher angetan hatten) dem Haushaltsvorstand meiner Au-pair-Familie zwar heftig schöne Augen machte, jeden Annäherungsversuch jedoch genauso heftig zurückwies.

Freitag, 16. November 2012

DB-026 11 (Meinen Aktivitätsdrang am Morgen kennst du)

11

Meinen Aktivitätsdrang am Morgen kennst du (allerdings hast du Sitzungen vor neun immer siegreich zu verhindern gewußt). Während Stefan sich noch herumwälzt, seinen immer schwerer werdenden Arm nicht von meiner Schulter nimmt, will ich gleich aufstehen, meine Klarheit festhalten, meine Alptraumreste mit einem starken Kaffee wegspülen. Weg mit den Reflexionen, die nur in Wehleidigkeit münden, weg mit dem Wunsch nach dem Entgangenen! Heute kehren meine Verwandten zurück; damit ist unsere zweisame Einsamkeit in ihrer Wohnung zuende.

Noch im Halbschlaf hat Stefan seine Bedürfnisse befriedigen können: Ich hab ihn eindringen lassen, ohne ein romantisches Vorspiel zu fordern oder gar eine brünstige Eroberung der Zitadelle Lena, die sich ja, wie du weißt, äußerst schwertäte, energische Abwehrmaßnahmen zu ergreifen.

Da hast du deine Verdienste: Wenn ein Mann aufgetaucht ist, der sich eingebildet hat, mir Stefan austreiben zu müssen (mit einer verbissenen Beharrlichkeit, einer abscheulich gesteigerten Bedürftigkeit nach gerade meiner Zärtlichkeit, was mich eingestandenermaßen immer so schwach, so gefährdet macht), hast du mir den Rücken gestärkt, mir das Ergebnis eines solchen Abenteuers vor Augen gehalten (ohne viel Rücksicht auf meine letzten Endes gegen mich selbst gerichteten Gelüste zu nehmen, ohne meine selbstzerstörerischen Unterwerfungs- und Entgrenzungssehnsüchte zuzulassen).

Jetzt schulde ich mir (und auch Stefan) eine wohlüberlegte Aufeinanderfolge von Handlungspartikeln: Badezimmer, Dusche, schnelles Abtrocknen, Ins-Kleid-Schlüpfen, In-die-Küche-Gehen, Wasser-Hinstellen, Kaffee-Reiben. Auch die Eier werden pünktlich und richtig fertig, aber Stefan, ein Häufchen Widersprüche am Küchentisch, will keines, obwohl sonst nicht viel zu essen vorhanden ist.

Während des Frühstücks gebe ich mir freiwillig erneut das Stichwort Genf, zur Ermunterung meines ausgelaugten Wirrkopfs. In Genf, als ich das erste Mal 1962 dort gewesen bin, hätte ich von einer schweren Krankheit, der quälenden Liebe zu einem bedeutend älteren Franzosen (er war Lehrer am Lyzeum) geheilt werden sollen.

Mein Vater hatte (und das nicht zum ersten Mal) recht gewaltsam und (so beteuerte er jedenfalls) nur zu meinem Vorteil in meine Liebesverhältnisse eingegriffen, nachdem ich auf einmal weder aus noch ein gewußt habe. Denn der Liebhaber war (wie nachher noch öfters) verheiratet, hatte Kinder, eine Hexe als Frau (die dann doch kurze Zeit meine Freundin wurde, ohne vom Charakter meiner Beziehung zu ihrem Mann etwas zu ahnen: ein spannender Zeitvertreib, der die bitteren Stunden des Studiums versüßen half).

Alles in allem: ein unsagbar melodramatischer Film mit allen Ingredienzien, die die Hoffnung auf ein Happy-End wachhalten, obwohl die unausweichliche Tragödie schon in der ersten Sekunde der Begegnung durchscheint. Angefangen hat alles damit, daß meine Schulkollegin Amanda mir erzählte, sie sei in einen gewissen Bernard erschreckend unheilbar verliebt.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

Mittwoch, 14. November 2012

DB-025 10 (Irgendwann wacht Stefan auf)

10

Irgendwann wacht Stefan auf, hört Lena neben sich atmen, kommt nicht klar, Fleischfetzen, Mehlreste, Blutspritzer, jemand hat etwas gesagt, aber wer?, mit welcher Stimme?, und Lenas Atem ist kein Schlafatem, vielleicht also sie?, Lena bewegt sich, sucht die Uhr, drückt einen Knopf hinein, um das Zifferblatt zu beleuchten, aber die Batterie ist leer, sie tastet nach der Nachttischlampe und knipst sie an: 4.11 Uhr, das Licht erlischt sofort wieder, Stefan spürt Lenas Hände, er hält einen Moment erschrocken den Atem an, Oskar tastet nach ihm mit schleimigen Händen, Lenas Schleim an seinen Händen, sie hat ihn ausgestoßen, und Oskar jammert wie ein Kind, erstaunlicherweise über Zensur, daß die Briefzensur hier die westlichen Meinungsumfragen ersetze, jemand lacht, Lena schmiegt sich an Stefans Rücken, wer hat gelacht?, ihre Hände fahren seine Hüften entlang, die Briefzensur ist computerisiert, Oskar lacht, Eifersucht schnürt Stefan den Hals zusammen, Stichwörter, und du erhältst die neueste Stimmung im Osten ausgedruckt, Stefan fröstelt, zieht sich die Tuchent über die Schultern, Lenas Hände stoßen zu seinem Bauch vor, Stefan atmet aus und dreht sich Lena mit einem Ruck zu, ihre Finger kreisen seinen Nabel ein, Erektion, er stützt sich auf seine Ellbogen, um sich über Lena beugen zu können, die ihm sofort den Adamsapfel abschleckt, den Unterleib entgegenreckt, sodaß er Oskar wegstößt, da in die weichen, samtenen, pulsierenden Höhlungen hineinfällt, emporgehoben wird, sich darin verknäuelt, verknäueln läßt, Lenas Unterleib schnalzt und schmatzt, Oskar zeigt sich voller Würmer, zerfressen, mehlig, blutig, verschimmelt, ein verwest glitzernder Leib, der sich in der hintersten Ecke, unter den Kohlen in der Küche mit dem Kohlenstaub mischt, und jetzt schiebt sich das Bild Julias vor das dieser Frau, der Körperteile dieser Frau, die sich da um ihn herum bewegen, ihn umkreisen und zum Selberkreisen bringen, die kreisenden, pulsierenden Körperteile unter ihm setzen sich zur blassen Gestalt Julias zusammen, der schwarze Kopf Lenas erhält das flimmernde Gesicht Julias, und Stefan hört ihre Stimme, hauchdünn: Der Ku-uß, der Ku-uß, er hört Lenas stoßweises Atmen, und darüber, in Obertönen: Der Ku-uß, der Ku-uß, während Lena, immer eindringlicher flüsternd, den Bettspalt vermeiden will, bis Stefan endlich begreift, ihren Schlangenbewegungen folgt, sich an sie klammernd, damit er sie nicht verliert, sie nicht ihn, damit er ihr, von oben, in den ihm entgegengestreckten Spalt zwischen den zusammengepreßten Beinen stoßen kann, aber Lena führt ihn, und er läßt sich führen, er nützt ihre Führung zur Entspannung, entspannt in den Armmuskeln, Rückenmuskeln, die Haut übers Fleisch auf den Knochen gespannt, mit aufgestellten Härchen, so neben ihr, gekrümmt, aber mit befreiten Händen kann er diese verzweifelten Kreiselbewegungen durchfuhren, als Ertrinkender, als einer, der sich der Oberfläche dieses mit ihm ringenden Körpers vergewissert, einer, der sich ganz gegenwärtig fühlen will, untergehen in den Bewegungen innen und außen, trotzdem den Kampf gegen die Gegenstände im Kopf durchstehen muß, die sich nicht befehlen lassen, ihr Eigenleben führen, sodaß er plötzlich wieder mitten in der verlogenen Abschiedsszene von Julia steckt, wo er eine Stimme wie die seine hört, die sagt: Der schmeckt, was sich aber nicht auf den Kuchen beziehen kann, der ja zäh und klebrig war und voller Backpulvergeschmack, sondern nur bedeuten kann, daß Stefan sich in Julias Kopf mit einer Zweideutigkeit festsetzen wollte: Julia, zu ihm strahlend aufblickend, hat gefragt: Der Ku-uß?, doch während Stefan darüber in ein Grübeln zu verfallen droht und sich an eine einladende Miene zu erinnern glaubt, fragt jemand mit deutlicher Stimme: Schläfst du?, will ihn an seine reale Situation erinnern, und er sagt: Nein, aber da ist diese schwere, bleischwere Vorlust, die in seinem Kopf wütet, zugleich das Kribbeln unter der Vorhaut, Wasserblase, die kalt und warm ist, die sein Ding zu einem Ballon aufbläst, an dem er hängt, winzig, abhebt von der Erde, ohne Angst, ohne Schmerz, enthoben, es ist vollbracht, und siehe, das Dreieckige Auge inmitten der Stirn dieser Frau, zweifellos Lena, die ihre Zunge herausschnellen läßt wie ein Chamäleon, klebrig, eine Sinnestäuschung, inmitten dieser fleischfressenden Pflanzen, röhrenden Echsen, knapp unter sich verführerisch feuchtklebrige Tropfen, Glitzern, kalter Schauer, Wolkenbruch, der Ballon schrumpft, sinken, fast übel, Raketen, die Nacht taghell ausleuchtend, Erdreich wie im Krieg, rasend schnell näher kommend etwas wie Granattrichter, offene Särge, Hain der erstarrten Toten - aufklatschen, schweißnaß, Hecheln, es dringt in Stefans Ohren, er spürt seinen wirklichen Schweiß auf seiner wirklichen Haut, seine wirklichen schweißnassen Arme, die Lena an sich pressen, bis sie sich entspannt, dehnt, aus allen Poren dampft und stöhnt, hinaus in die zitternde Dunkelheit, in den vorbeirauschenden Zug, hinter dessen Fenster schlaftrunkene Arbeiter hocken, keine Zensur, bei mir nicht, Stefan spürt, er hält durch, er saust, rattert im Rhythmus des Zuges, bis weder Oskar noch Julia ihn bedrängen, nur das Geschrei Lenas, der Schrei, der wie eine Explosion über ihm lastet und er seinen Samen hineinschießt, Versöhnung kurzfristig, distanzlos ohne jede Bedingung mit dem Kind, das er in diesem Moment zeugen könnte, dem Bastard, der schöner und erfolgreicher sein würde als er, ein Kind Julias von ihrem Vater Oskar, nicht eines von Stefan und Lena, aber es wird nicht gezeugt.

Lena sinkt weg, übergangslos in den Schlaf, während Stefan ihren Daumen zwischen seine Hand nimmt und sichs so bequem neben ihr machen will, für eine Weile, fallsjetzt nicht gleich der übliche Kopfschmerz kommt.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

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