Montag, 26. November 2012

DB-030 (12) (Stefan sitzt bereits in der Gaststätte)

Stefan sitzt bereits in der Gaststätte Ecke Leibnizstraße/Dunckerstraße, das leere Glas seines Vorgängers betrachtend, auf dem sich noch Bierschaumreste, Lippen- und Fingerabdrücke befinden, und vermeidet es, Lena anzusehen.

Was ist die Kälte zwischen zwei Menschen gegen die Kälte der Gegenstände, beispielsweise der Schere in Lenas Nähzeug? Diese Schere aus finnischem Stahl hat beide Schenkel so dicht übereinander, daß der untere, der sich dann in einem grellorangefarbenen Plastikgriff mit länglicher Ausnehmung für Zeige- und Mittelfinger fortsetzt, nur einen Millimeter vorragt, während der obere im Bereich der Niete, die zugleich den Drehpunkt darstellt, scharf abknickt und in einen ebenfalls orangefarbenen Plastikgriff mit runder Ausnehmung für den Daumen mündet: diese scheinbar undurchdringlichen Materialien, die sich im trostlosen Denken gleich kalt anfühlen!

Der Gast, der vor Stefan hier gesessen ist, könnte wie einer der Burschen gegenüber mit ihren langen, fettigen Haaren, ihren weißen Nylonhemden ausgeschaut haben; oder wie der freundlich grinsende Pockennarbige neben ihm, der aus seinem offenen Fischgrätmantel heraus genüßlich sein Bier einsaugt.

Der Kellner bringt die Karte, Lena bestellt, Stefan schließt sich an. Wenn Stefan an die Entfernungen innerhalb des Milchstraßensystems denkt, ist er Lena relativ nah. Er könnte sich das Fell, das sie umgibt, oder ihre Kopf- und Körperhaare als Erreger von Wärme vorstellen. Aber er will gar nicht wissen, ob sie wirklich und greifbar neben ihm lehnt.

Es gefällt ihm, sie im Moment zu einem Gegenstand zu machen, etwa zu seinem Bleistift, den er in seiner Jackentasche befingern kann: die Graphitspitze, die sich kalt in seine Zeigefingerkuppe bohrt; der glatte Lackmantel um das etwas wärmere Holz, der ihn zu einer ständigen Wiederholung der verborgenen Drehbewegung animiert; die gerillte Messinghülle für den Radiergummistummel, den er langsam zerbröselt.

Der Typ im Fischgrätmantel verschwindet, der Kellner stellt die Getränke ab und bedauert, daß das Gewünschte heute nicht im Angebot sei; es gebe aber Goldbroiler, Bratwurst oder Sülze.

Lena entscheidet sich für die Bratwurst, Stefan für ein noch nachgeschobenes Rührei mit Spinat. Beides kommt in großen Tellern auf den Tisch, schmeckt würzig und verschwindet fast restlos: Von Stefan eher unachtsam verschlungen, von Lena überlegend eingeführt, bis die Hälfte erreicht ist. Dann kann, als Friedensangebot, ein Tausch stattfinden.

Plötzlich hält Stefan im Kauen inne und sagt: Die Milchstraße ist ein leuchtendes Band, das die Hauptebene eines abgeflachten, linsenförmigen, rotierenden Sternsystems bildet, mit dem größten Sternreichtum im zentralen Kerngebiet, bestehend aus Sternen der Population II, um das sich die Sterne der Population I, die offenen Sternhaufen und die interstellare Materie in Form von flachen Spiralarmen winden. Der große Durchmesser des Milchstraßensystems wird auf 80.000, der kleine auf 15.000 Lichtjahre geschätzt.

Trotz Lenas verständnislosen Blicks beugt er sich vor, um ihren Mund mit einer Serviette von den Eiresten zu reinigen. Lena unterbricht kurz ihren Kauvorgang und gestattet so Stefan, sich wieder als ein durchblutetes Wesen in einem nun nur mehr halbvollen Ostberliner Lokal zu erkennen.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Free Text (1)

Dieses Weblog wird hier archiviert.

Archiv (ab 1967)

Lyrikbände:

Der zarte Leib

Friede den Männern

Das leere Kuvert

Eurotunnel

Obachter

Schreibzimmer

Romane:

Die Berliner Entscheidung

Originalverpackt oder mit Widmung über e.a.richter(ett)gmx(punktt)at erhältlich.

„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

Fliege. Roman eines Augenblicks

Aktuelle Beiträge

0126-1b A KIND OF DEPARTURE
the lady of the house speech-impaired since an incomprehensible...
e.a.richter - 2015-12-30 07:09
0126-1a AUCH EIN ABGANG
die gnädige frau sprachgestört wohnt sie seit einem...
e.a.richter - 2015-12-26 03:43
0107a - THE TEACHERS
the teachers leave the school the prettiest teacher...
e.a.richter - 2015-12-23 21:27
DT-001 FETISCH
(YVONNE) ihre weiße Bluse steif, ein Fetisch, der...
e.a.richter - 2015-12-21 12:12
DZL-18 DAS BETT
das Bett, das alles verraten wollte und nichts verriet:...
e.a.richter - 2015-10-07 04:22
DZL-17 PUPPI
was zu sehen ist, in einzelne Stücke zerlegen; alle...
e.a.richter - 2015-06-02 08:44
DZL-01 WIR GLAUBTEN AN...
wir glaubten an das Blut. Dieses Wir ist mit Vorsicht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:59
DZL-02 MEIN PATTEX
mein Zauberer hieß nicht Pattex, nicht Expatt. Er lebte...
e.a.richter - 2015-05-07 13:58
DZL-03 DER ZARTE LEIB
Zartleibigkeit wird vermißt, auch intensive Zartlebigkeit....
e.a.richter - 2015-05-07 13:56
DZL-04 - ZU MEINER ZEIT
zu meiner Zeit war gar keine Zeit. Die Zeit hatte sich...
e.a.richter - 2015-05-07 13:55
DZL-06 IN DIE HÖHE SINKEN
schwierig zu lesen: Er begriff seine Geschichte. Blatt...
e.a.richter - 2015-05-07 13:53
DZL-07 TISCHLERPLATTE
mein Vater, Tischler, hatte keine Tischlerplatte, er...
e.a.richter - 2015-05-07 13:52
DZL-08 GOLD, GLANZ, HEITERKEIT
sie sagt, ich bin älter als mein Vater, als er zu...
e.a.richter - 2015-05-07 13:51
DZL-09 WIR GLAUBTEN AN...
wir glaubten an das Blut. Dieses Wir ist mit Vorsicht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:51
DZL-10 BRAUTMASCHINE
ein Mann braucht nur eine Wand und eine Braut. Er braucht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:50
DZL-11 SCHWIMMERIN
wenn sich das Tor geöffnet hat, fährt allen in ihren...
e.a.richter - 2015-05-07 13:50
DZL-12 FRESSEN UND WUCHERN
Gedichte zu fressen ist nicht meine Sache. Ich lese...
e.a.richter - 2015-05-07 13:49
DZL-13 KONTROLLE VERLIEREN
Kontrolle verlieren, im Nebenraum, wo alles aufgetürmt...
e.a.richter - 2015-05-07 13:49
DZL-14 MUNDSCHUTZ FÜR...
es begann mit strahlenden Augen, auf einer Schnitzerei...
e.a.richter - 2015-05-07 13:48
DZL-15 JUNGE FRAUEN...
dem kleinen Mann macht die Situation einen Gefallen: zwei...
e.a.richter - 2015-05-07 13:48

Free Text (2)

Free Text (3)

Archiv

November 2012
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 
 5 
15
21
23
25
 
 
 

Suche

 

Status

Online seit 4841 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 2016-01-06 11:08

Credits


A Roma etc.
Das leere Kuvert
Der zarte Leib
Detonation und Idylle
Die Berliner Entscheidung
Erste Instanz
Eurotunnel
Fliege (Notizen)
Friede den Männern
Jetzt
Licht, Schatten
Namen
Obachter
Pessimismus & Erfahrung
Schreibzimmer
Stummfilmzeit
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren