Obachter

Dienstag, 17. Januar 2012

O-19 BUKOWSKI

bei Bukowski denk ich an F. oder H.,
Säufer in meinem Alter, trocken,
doch unberechenbar auf immer. Schickt
der eine ein E-Mail EILT EILT EILT,

Treffpunkt Berlin, günstige Gelegenheit,
will der andere nicht nur Urkrebschen erforschen,
seine Frau bedrohn, kochen wie ein Gott,
andere Alkoholiker betreuen, wieder Auto fahren,

sondern auch Macht demonstrieren, Wissen,
Selbst-Beherrschung: riecht nicht nur, trinkt
auch Schlückchen, unter dem Titel:
Vorkosten für den Gast. Jetzt gleich weg

aus dieser Szene: da saß die Familie rund
um den Tisch, Landleben, Langeweile; die einen
wollten abfliegen, morgen früh, verurteilten
die andern zum Bleiben, Verrosten, Rösten

am Schoß ihrer Erde, am Schwanz ihres Hundes,
der Kleinkinderhände blutig beißt,
am triefnassen Beißkorb. Beide nun hier
in Berlin nur Papierfiguren, doch wiederauf-

erstehungsfähig im Gegensatz zu Bukowski,
den ich heranzog, weil sich sonst niemand
anbot, beinahe geschenkt, sogar mit dem Tod
im Titel, Lyrik verweigernd:

verband mich mit einem der Doppelgänger
vor zwanzig Jahren - als wir hinausgingen,
das Wasser abschlugen, und keiner kam jemals
wieder zurück in dieses Hotelzimmer voller Staub

(Donnerstag, 20.4.2000, Berlin)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

Sonntag, 15. Januar 2012

O-18 SILVESTERPFAD

unter Essenden nichts gegessen;
nichts getrunken unter allen,
die tranken: Ausschenkenden,
Tanzenden mit ihren riesigen
Silbermaschen, Zweitausenderhüten,
rotblinkenden Plastikfühlern.
Sie kamen von allen Seiten.
Ließ sie vorbei,
beäugte sie von den Ecken her,
aus Nebenstraßen,
über Denkmalbrüstungen,
Müllcontainer hinweg.

Nur einer ließ mich stillstehn:
der Feuerjongleur.
Zauberte Feuer um seinen Körper,
erforschte es dabei,
ließ es lang leben:
auf dem Kopf,
in den Achselhöhlen,
zwischen den Beinen.

Dann wandte ich mich ab,
sah nur eine einzige Verlockung
hinter Fensterscheiben:
auf einem Plakat Frauen mit Flügeln,
in Unterwäsche,
übermannt von wintergrünen Schatten.

Und am Ende der Straße,
unter Neonschriften,
ihre unwillkürliche Vermehrung -
Schaufensterpuppen,
in Reih und Glied auf dem Rücken,
die Beine nach oben gespreizt,
in den Knien abgewinkelt,
als würden sie tanzen:
erhoben sich nicht,
demolierten keine Scheiben,
stimmten keinen Chor an,
versammelten sich nicht zum Reigen:
ließen mich laufen,
ins nächste Jahr

(Sonntag, 2.1.2000, 6.35 Uhr)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

Freitag, 13. Januar 2012

O-17 NACHTGESTALTEN

wie es nicht mehr auftaucht. Wie es mich
anstrengt, daran zu denken, daß es vorbei ist.
Wie ich lächle, weil ich glaubte, es wär ganz leicht
wiederzubeleben, wenn ich nur daran dächte.

Wie sich dann doch einige Gesichter herausschälen,
von denen ich nicht weiß, welche Rolle
sie in dieser Nacht spielten. Ich weiß: Mein Kopf
schmerzt. Nachtgestalten verstrahlten

Schmerz in meinen Schlaf. Vielleicht nur Autos,
die mich durchkreuzten. Darunter eines,
das auf ein anderes auffuhr. Sah harmlos aus:
kurzes Krachen, ein wenig zerdelltes Blech.

Und Männer, die einander nicht kannten.
Genau dieser Punkt, genau diese schmerzhafte Stelle.
Ohne Schmerz fährt nichts. Nachts, auf dem Weg
zum Flughafen, bei Regen, zu schnell, was heißt:

jäher Stopp, Abbruch. Zwei gestikulierten,
ein Schwarzer, ein Weißer. Und irgendwann
genau der mit einem schwarzen Kind
an der Kittelfalte, in einer Halle.

Später, nicht in dieser Nacht, nicht mehr da,
in der Stadt, sondern irgendwo an der Nordsee,
vier, fünf völlig Verschlafene,
vielleicht nur Abspaltungen des Ich,

frühere Gesichter, auf einer dämmrigen Fläche.
Etwas heller, dahinter, das Meer, ganz flach,
dunkel. Morgengrauen, Aufwachen.
Irgendwann Züngeln, Knattern, Qualm, ein Feuer.

Wie es brennt, wie Benzin ums Auto leckt,
ein Streichholz fliegt, wie Blechteile fliegen.
Wie man lacht, einander in die Wangen kneifend,
auf die Schultern klopfend vor dem Brennen.

Dunkler Rauch vor dem mondhellen Prospekt.
Auto am Meer abgefackelt, Täter, die lachen,
nun allein und klein dastehn, mir innigst
ans Herz gehn, mich drangsalieren.

Wie sie nicht mehr auftauchen. Wie es mich
anstrengt, daran zu denken, es könnte vorbei sein.
Wie ich lächle, weil ich glaubte, das alles
wäre ganz leicht wiederzubeleben, wenn ich

nur daran dächte. Wie ich über die Folgen nachsinne:
zu Fuß durch die kotige schrundige Gegend. Oder
einfach auf irgendwelche Schiffe hoffen,
am Küstenstrich, die Stadt verfluchend, keine Rückkehr

im Kopf. Sich vollaufen lassen, aneinander-
gekuschelt warten: bis die Sonne aufgeht,
wieder untergeht. Diese Lebenslakonie, die nicht fragt.
Warum ich nur diese Szene aufgeklaubt hab.

Wohin ich sie mitnehm. Und wie ich sie je
wieder loswerde. Genau über der linken
Augenbraue der Schmerz. Kein einziger Schnitt hier,
kein Piercing, nur einzelne Büschel, Resthaare

(Donnerstag, 6.1.2000, 8.30 Uhr)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

Mittwoch, 11. Januar 2012

O-16 FINDIGES PORTRÄT

1

vor dem eingeschalteten Fernseher leugnet er
fernzusehen. Sagt immer wieder: Entzückend,
an den unpassendsten Stellen: Entzückend: Arbeit,
Zeit, Reise – alles: Entzückend. Schwärmt
in den höchsten Tönen von einem angeblich
altösterreichischen Beamten, schon in Pension,
den er bei einem Eßkurs aufgegabelt hat

2

er plädiert für einen Zugang zum Meer:
denn ohne solchen sitzt ein Land am Trockenen,
vernachlässigt die Ressourcen, schmählichst.
Fuhr bisher jedes Wochenende auf sein ungarisches
Weingut, fährt auch jetzt, zum dritten Mal,
zur Weinlese. Macht einen Weinkurs. Liest
immer im Restaurantführer nach, ißt sich der Reihe
nach durch die allerbesten Lokale, hier und dort

3

die Stempeldrucker, in den Ex-Ostblockländern,
alle ehemalige Judokas – von denen schwärmt er.
Der beste Freund: ein Stempeldrucker,
auch sein Brautführer bei der Hochzeit
in Las Vegas. Da trug er einen Steireranzug, sie
ein mitgebrachtes Schwarzes. Er unterscheidet
streng zwischen der permission und dem gemeinsamen
Herabsteigen auf der Treppe im billigen Superhotel.
Alle klatschten, schenkten ihnen Karten und Stofftiere.
Also er, der Mann mit den vielen Pussybären,
die am rosaroten Wasserbett saßen, keinen Laut
von sich gebend. Und eine Unzahl Amerikaner,
mit ihrem praktischen, heiteren Gemüt - entzückend

4

jetzt in der Firma des Vaters nistet er im Büro,
unter dem geretteten Baum, der sich ungeniert
ausbreitet, seine Blätter auch durch die Lehnen
der geerbten Stühle streckt, den Biedermeiertisch
überschattend. Darauf eine namenlose Kugelpflanze,
deren Schönheit zuletzt sehr verblaßt ist.
Draußen Messinghandläufe, kreuz und quer,
marmorierte Treppen, Decken aus spiegelnden
Glasquadraten, Kirschholztüren – soll er sie
wirklich täglich alle öffnen, und wenn ja: für wen?

5

gern residiert er in der Kleinwohnung im Palais
mitten in der Innenstadt: wo alles nächstliegend
gemütlich ist, so mühelos zwischen Barock und
Zeitgenossenschaft hin- und herschwebend, zwischen
dem Hier- und Dort-Leben, und dort heißt auch Neuguinea,
zum Beispiel, begleitet von einem Hobbyethnologen,
der ihm Verhaltensregeln zuflüstert: Kein Geld, nur Ware!
So tauscht er Steinwerkzeuge gegen T-Shirts,
und hält sich im Hintergrund, wenn die Italiener
mit ihren Brieftaschen schamlos protzen

6

trotzdem: seine größte Liebe gilt Rom, der Kirche, dem Vatikan.
Sollen doch die Toten anrennen dagegen, die Verbrannten,
die Gehängten, Eingegrabenen, Verhungerten,
die In-die-Luft-Gesprengten! Nicht die Körper
überleben, die Kraft der Kultur, die sich als Rhizom
ausbreitet unter der Erde und nach oben durchsticht,
als Ganzes völlig unsichtbar, sich vollsaugt mit Luft,
Lust, Leben, ihn jederzeit durchdringt vom Fuß bis zum Kopf

(Sonntag, 10.09.2000, 11.00)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

Montag, 7. November 2011

O-15 HYMNE AN DICH

ich dachte an dich, wie an keine andere,
oder eine, die ich in- und auswendig kenne.
Wie befremdlich: wir gingen nebeneinander,
und ich erkannte dich nicht.

Ich rief dich nicht an, vergaß
voller Absicht deine Telefonnummer.
Du erzähltest mir freiwillig deine Träume,
doch ich stieß mit Fragen nach, unerbittlich.

Deine Tränen amüsierten mich, ich schürte
den Mut zur Häßlichkeit, lobte zugleich
deine Ohren, Öhrchen: wenn du die Haare
oben hattest, Nadeln darin.

Riß sie aber immer wieder, wenn die Hand
den Polster verschob, stopfte sie, schon schlummernd,
in mich, erwachte mit ekligen Knäueln
auf der Zunge, Gewürge.

Wie oft erwartete ich neben dir den Schlaf,
zuckte zurück, wenn deine Zehen
zu bohren begannen, deine eisige Hand
sich zwischen die Beine schob, mich zwickte!

Ich konnte nur deine Zunge verdrehn,
meine Augen schließen, Belag auf Belag,
und das im Geruch nach Milch -
strömendes Euter, Lakenluft, brünstige.

Du wußtest, daß ich mit dem Schreiben
hinter dir her war: schrieb alles auf,
was du sagtest, tatst, nicht tatst, hättest
tun können, verbarg das Geschriebene,

kam aber in Gesprächen darauf zurück -
da lachtest du hell auf, mich verkleinernd,
die Mühe, die ich für dein Leben aufwandte,
sie sollte ja uns beide steigern, zu vergeistigten Dubletten!

Dann noch diese Statistiken, Tabellen,
die Vergleiche über Jahre gestatteten,
über Zeiten des Aufwachens, Einschlafens,
der Schlafdauer, Dauer von Tätigkeiten, Häufigkeit

des Verkehrs, Intensität, Hartnäckigkeit,
über Symbolismen, Andockversuche
an andere Leben in Gesellschaft und auch in der
Bettleseeinsamkeit. Und deine Manien!

Wanderaugen am Tisch, wischbereite Hände,
und Tadel für unwillkürliche Äußerungen,
Tadel für Furze, Rülpser, Flüssigkeiten
im Gesicht, klebrige Bodenstellen.

Dein Aberglaube: gabst dieses zu, jenes nicht,
Zählreime etwa, die so vieles abwenden konnten,
vorgestellte Hüpfbewegungen, auch die Anwesenheit
des Teufels, Genossen aus der Klosterschule, ironischen

Schattens über allem, Verdopplers, Verdünners,
Schlechtmachers, penetranten misanthropischen
Vaterverlängerers, Initiators der Liste deiner Phobien,
auf die du so stolz warst, die du noch ausbautest,

verbogst in eine fallweise rettende Lebensstruktur.
Tiere im Bett: alle hatten Namen, oft wechselnde,
konnten aus deinem Mund sprechen, mich auch
schlagen, in die Wange beißen, demütigen

zu Recht, wenn ich den Verweigerer hervorkehrte,
sardonische Seiten, Illusionen, poetisierende,
rohen Samengenuß. Nie kam meine Zunge dorthin,
wo du sie begehrtest. Nie hieltst du

so lange durch, bis ich wirklich zusammenbrach.
Ich fügte mich gern, verkörperte noch immer
den Wickelpolstermann, stocksteif, unansprechbar.
Irgendwann kam dann doch deine Hitze in mir hoch,

immer, wenn es zu spät war, mitten in deiner bleiernen
Müdigkeit oder in meiner kindischen Verhemmung.
Wer schenkte dir diesen schäbigen Männerpyjama?
Und woher kam dieser Stammbaum, der mich fast erschlug?

Riesenschachtel zwischen den Tellern auf dem Tisch.
Anstelle des Essens Zurückblättern in eine sehr schnell
angeeignete Familienvergangenheit: Geschenk
eines verrückten Archivars, aus der Manie

eines in Stalingrad Gefallenen mit Germanenüberschuß
in Blut und Hirn. Doch auf diesen Kopien
vereinigten sich unsere Namen schon vor Jahrhunderten
an einem noch nie betretenen tschechischen Grenzort.

Weder Treue noch Schicksal, weder Reue noch Spiel,
nur dieser idiotische Trost: wir könnten uns jederzeit wieder
an der Stelle treffen, wo wir, im Streit, aufeinanderstießen,
zum allerersten Mal: keine Sekunde vorher, keine danach

(Montag, 25.09.2000, 17.10)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

Montag, 24. Oktober 2011

O-14 VOM ZERBRÖCKELN DES CHARAKTERS

jemand dozierte über Blendung, Masse Mensch, zitierte Rushdie,
den wahren Titel eines Buchs: Vom Zerbröckeln des Charakters.
Ich dachte: Warum muß diese Frau in mir nur den Lügner sehn,
der nie aufhören würde zu lügen? Sie lachte hell auf, angeblich nur
über ihren toten Vater, der ihr vor Jahren erschienen war, im Traum.
Er gab ihr den Auftrag, nicht sie sich selbst. Ich bat sie, sich auf die Bank

zu stellen, auf mich herabzuschauen. Beugte den Kopf und schrie:
Vater, Vater! Schon vorher war ich entschlossen, mich nicht
zu unterwerfen. Keine Rechtfertigung, kein Hinknien, nicht einmal
eine Andeutung, kein zweckhaftes Betasten. Auch keine Geschichten,
die ihr den Kopf verdrehn oder gar Lust machen würden.
Wir gingen im Kreis, um den Ziegelturm von früher herum, außen

auf der Wendeltreppe hinauf bis zum Plateau. Von dort würde sie bald,
mit oder ohne Koffer, abfliegen, entschwunden sein nach Südosten,
zwischen zwei Augenblicken. Ihre nähere Zukunft – das Meer.
Salzwasser, nicht bei Sonnenaufgang – da wollte sie noch träumen:
von einem andern, losgelassenen Leben, mit Zeitmarkierungen,
die sie sich selber setzt. Zugleich immer noch oben im Flugzeug,

in der Bewegung durch die Luft zwischen zwei Orten, herbeigeweinten,
der Liebe und Wahrheit. Meditation, die das Rauschen ausblendet.
Auch die Medikamente, hilfreichen Frauenhandreichungen daheim.
Sogar das Wickeln, zur Körperverdünnung. Gewickelt, von oben
bis unten, auch der Kopf – Mumie, mit Plastiksäcken an den Füßen,
für das graue Körperwasser. So kamen wir in die Nacht,

ich ohne Orientierung, zu ihrer Erleichterung. Sie konnte das Gelenk sein,
ich der Gelenkte. Mit Schmiergeld, Dauerkatheder. Ein Hüpfen,
das der losen Kniescheibe. Schmerzte das Bein schon, als die Sonne
hintereinander mehrmals versank? War die Mitgängerin nahe Zukunft,
die sich in meine Traumwelt einschlich, neue Identitäten schuf, solche,
die sich schuldig fühlten, und solche, die beim Wort Schuld sofort zuschlugen,

aus schuldiger Erinnerung? Im Traum flog sie unter einem falschen Namen ab,
gleich in dieser Nacht. Doch im menschenleeren Flugzeug saß nicht sie
zwischen den Sitzen, damit auch den Geschlechtern, sondern ich.
Sie kam zu spät, an meiner Stelle. Wie ruchlos – Austausch als Ablenkung
davon, daß ich hinter allem her war, sie aber das meiste gleich ausschied,
aus Zeitmangel! Meine gestohlene Zeit, die sich blasig anfühlte, Atemnot

erzeugte, Einschnürungen in der Körpermitte. Ich, ihr Obachter, ließ mich
erhitzen. Sie aber wußte hautnah, was guttat. Hing am Lusterrest, Überbleibsel
des Vaters, baumelte nicht, ließ sich mit Schwung fallen. Landete
im Spitalsbett – bis oben voller Trauer, Verärgerung über sein lausiges Essen,
Mangellicht, Minimallust. Nichts wußte sie über seine letzten Minuten.
Im Traum hatte er jetzt keine Stimme mehr. Sie ahmte ihn nicht nach,

nicht unter meiner Führung. Identitätsverweigerung – aus einem Guß
sollte sie mir erscheinen. Und im Meer verschmelzen ihr silberner Badeanzug
mit der goldenen Oberfläche: beherrscht vom Wunsch nach Ganzheit,
Energieaufladung aus dem Weltall. So leicht würde sie sein: sie oben –
oder unten – an diesem Häutchen, sich darauf fortbewegend, ständig benetzt
vom zypriotischen Salz: entkommen der abendländischen Sonne, dämmrigen

Finsternis, den hiesigen Abzockern, die sie noch gar nicht kennt.
Flug, Meer, Charakter – so belohnte sie sich für ihr Ausharren, hoffte
auf Belohnung danach. Ich hingegen in Büchern versinkend, Schriften,
Bildern aus dem Internet, sich von selbst öffnenden, in atemlosem
Ehrgeiz, der nur von Zahlen abhängt, einem Rekord an Selbstverleugnung:
Schauen, Drehen, Laufen, Schnaufen rund um den herzlosen Monitor

(Mittwoch, 17.10.2001, 21.20 Uhr)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

Samstag, 8. Oktober 2011

O-13 ROSEN-SCHÄDEL-ZEICHNUNG

an irgendeinem Tag mit Migräne
unter der mittagssexbesessenen Decke.
Augenflimmern, Erbrechen. Rosen rankten sich
über Gartentore, ein Lusthaus,

über die gesamte Bibliothek des Wissens.
Dornen steckten in Zehen, Waden und Fingern.
Die Blätter pflückte ich, um nachher den Strauß
in Krepp-Papier dick einzuwickeln.

Irgendwo stand der Schädel, Gipsimitation,
bemaltes Trinkgefäß, zugleich Turngerät
für eine Unzahl von Weibsbildern,
die aus allen Öffnungen quollen, wurmartig.

Der Schmutzrand an der Wanne – unauffällig
willkommener Hintergrund. Rot der Schädel,
von innen beleuchtet, und schwarz
die unverdrossenen Jungfrauen.

Unaufhörliches Lächeln, sorglose Sohlen,
saubere Handinnenflächen: sie apportierten
die Rosen zwischen den Zähnen,
als wär das ihr einziger Überlebenssinn

(Sonntag, 2.1.2000, 22.20 Uhr)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

Dienstag, 31. Mai 2011

O-12 GROSSELTERNNACHBLICK

beschloß, mir zu widersagen, dem Teufel,
vor dem Foto des Großvaters; widerstand nicht,
es zu öffnen, Monitorleben, mit Zugaben von Rot, Gelb,
Intensität, Helligkeit und Kontrast: lächelt jetzt,
bild ich mir ein, unter seiner wassergescheitelten Haarfülle
brav und verbindlich zu mir herauf, fest
in sich ruhend, sprechbereit. Weiß ich den Satz?
Hör ich die Stimme? Würd ich ihn gleich wieder
duzen über die lange Zeit nach seinem Tod hinweg?

Nahm den Taschenspiegel, teilte sein Gesicht
in zwei Hälften: links das Gewicht der Jahre,
deren Enttäuschung, das die Mundwinkel lockert,
zugleich ihren Widerstandswillen artikuliert; rechts
der Schmerz über jeden Verlust, den vergangenen,
den, der kommen wird unweigerlich; hinter den
fleischigen Wangen wachsam errichtete Ohren:
Könnte er mich hören, mit welchem Laut sollte
ich anfangen? Würd er nur Pfeifen und Brüllen
vernehmen, brüllenden Enkel, pfeifenden Luftikus?

Über dem zugeknöpften Gilet der abgetragene,
keineswegs pedantisch gereinigte Rock. Darüber
das massige Haupt, ein wenig nach rechts geneigt, auch dem,
der ihn fotografiert, scheinbar wohlwollend entgegen.
Neben ihm der Spalt zu seiner Frau schließt sich
im Dunkel über dem Boden. Großmutters schmaler
verkrümmter Leib unter einem losen schwarzen Kleid;
darüber, ganz locker, die unermüdlich getragene Weste,
die mit dem Karomuster; und um den Kopf gugelartig
ein Tuch, das ihr Gesicht noch kränker, ganz
ausgezehrt erscheinen läßt. Haarreste zu beiden
Seiten, Hexenborsten. Wird sie sich halten?
Droht sie noch immer mit ihrem Tod?

Durchdringend ihr linkes Auge, das rechte in sich
versunken, an allen Schmerzorten gleichzeitig.
Ihr nie enthüllter Oberkörper, mittels linkem Ellen-
bogen auf dem Eßtisch abgestützt. Die rechte
Hand über die Kante hängend, nicht offen, nicht
willenlos verkrampft. Beschloß, dieses Foto verkehrt
unter die Bücher zu schieben. Las dann ein Whitman-Gedicht
in Kabbala und Tango. Hatte das Buch vorsorglich
zwischen vielen anderen hervorgezogen, zufällig dieses.
Schlug es irgendwo auf. Fühlte mich noch immer von Fragen,
unausgesprochenen, an die beiden Toten bedrängt,
vom Wunsch nach ihrem wärmenden Fleisch

(Dienstag, 4.1.2000)(21.50 Uhr)

(Blick ins Nebenzimmer: Campo di urne 03)

Montag, 23. Mai 2011

O-11 ELF

Uraugenblick mit einer Zahl wie 11.
Oder 111. Oder 11.111, was nur
Tage sein können, 30 Jahre und dazu
ein halbes: schon lang vorbei. Dachte: Hälfte
des Lebens, damals. Wessen eigentlich?
Dessen, der denkt, oder dessen, der lebt?
Welches Leben? Das eines anderen,
vieler anderer? Oder ein eigenes,
zum eigenen erklärtes? Und dann dieser
9.9.1999, der nichts damit zu tun hat, nur
als Zahl zur Rückerinnerung zwingt,
ob es ein Drama wird irgendwann mittendrin,
Vorausschau auf eine sonnenfinsternis-
nahe Empfängnis. Ob da irgendwo ein Same
herausschoß, ein Haus wegschwemmte,
im Wiederaufbauschutt versacken ließ

(Dienstag, 12.06.2001, 23.10 Uhr)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 24)

Freitag, 20. Mai 2011

O-10 NICHTSTUER

Nichtstuer - heute, morgen, zwischendurch.
Magenrumor, schlechtes Wetter, nichts drängt.
Niemand ruft an. Greif nicht zum Telefon, denk nicht
an frühere Anrufe, schreib keine Mails, keine Briefe,

schweif hin und her, hin und her. Glaub einfach nicht,
daß nichts passiert. Immer passiert etwas, draußen,
irgendwo, und man könnte ja auch vor die Tür gehn.
Man muß sich nicht entscheiden, jetzt, nur die Scharniere,

die sich von selbst einstellen, zwischen den Stunden
oder Minuten, rühmen. Nichtstuender Nichtstuer –
Zehen, die knirschen, Finger, der Reihe nach aus dem Nichts,
Luftblasen vor halb geschlossenen Augen.

Brennen im Rippenbogen, am Schlüsselbein Figur,
die selbsttätig pulsiert, als Erinnerung, dazu weiterhin:
Luftblasen vor halb geschlossenen Augen! Und irgendwo
die Knochenmehlmaschine da draußen mahlt

(Montag 23.07.2001, 14.40 Uhr)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 21)

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