Mittwoch, 11. Januar 2012

O-16 FINDIGES PORTRÄT

1

vor dem eingeschalteten Fernseher leugnet er
fernzusehen. Sagt immer wieder: Entzückend,
an den unpassendsten Stellen: Entzückend: Arbeit,
Zeit, Reise – alles: Entzückend. Schwärmt
in den höchsten Tönen von einem angeblich
altösterreichischen Beamten, schon in Pension,
den er bei einem Eßkurs aufgegabelt hat

2

er plädiert für einen Zugang zum Meer:
denn ohne solchen sitzt ein Land am Trockenen,
vernachlässigt die Ressourcen, schmählichst.
Fuhr bisher jedes Wochenende auf sein ungarisches
Weingut, fährt auch jetzt, zum dritten Mal,
zur Weinlese. Macht einen Weinkurs. Liest
immer im Restaurantführer nach, ißt sich der Reihe
nach durch die allerbesten Lokale, hier und dort

3

die Stempeldrucker, in den Ex-Ostblockländern,
alle ehemalige Judokas – von denen schwärmt er.
Der beste Freund: ein Stempeldrucker,
auch sein Brautführer bei der Hochzeit
in Las Vegas. Da trug er einen Steireranzug, sie
ein mitgebrachtes Schwarzes. Er unterscheidet
streng zwischen der permission und dem gemeinsamen
Herabsteigen auf der Treppe im billigen Superhotel.
Alle klatschten, schenkten ihnen Karten und Stofftiere.
Also er, der Mann mit den vielen Pussybären,
die am rosaroten Wasserbett saßen, keinen Laut
von sich gebend. Und eine Unzahl Amerikaner,
mit ihrem praktischen, heiteren Gemüt - entzückend

4

jetzt in der Firma des Vaters nistet er im Büro,
unter dem geretteten Baum, der sich ungeniert
ausbreitet, seine Blätter auch durch die Lehnen
der geerbten Stühle streckt, den Biedermeiertisch
überschattend. Darauf eine namenlose Kugelpflanze,
deren Schönheit zuletzt sehr verblaßt ist.
Draußen Messinghandläufe, kreuz und quer,
marmorierte Treppen, Decken aus spiegelnden
Glasquadraten, Kirschholztüren – soll er sie
wirklich täglich alle öffnen, und wenn ja: für wen?

5

gern residiert er in der Kleinwohnung im Palais
mitten in der Innenstadt: wo alles nächstliegend
gemütlich ist, so mühelos zwischen Barock und
Zeitgenossenschaft hin- und herschwebend, zwischen
dem Hier- und Dort-Leben, und dort heißt auch Neuguinea,
zum Beispiel, begleitet von einem Hobbyethnologen,
der ihm Verhaltensregeln zuflüstert: Kein Geld, nur Ware!
So tauscht er Steinwerkzeuge gegen T-Shirts,
und hält sich im Hintergrund, wenn die Italiener
mit ihren Brieftaschen schamlos protzen

6

trotzdem: seine größte Liebe gilt Rom, der Kirche, dem Vatikan.
Sollen doch die Toten anrennen dagegen, die Verbrannten,
die Gehängten, Eingegrabenen, Verhungerten,
die In-die-Luft-Gesprengten! Nicht die Körper
überleben, die Kraft der Kultur, die sich als Rhizom
ausbreitet unter der Erde und nach oben durchsticht,
als Ganzes völlig unsichtbar, sich vollsaugt mit Luft,
Lust, Leben, ihn jederzeit durchdringt vom Fuß bis zum Kopf

(Sonntag, 10.09.2000, 11.00)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

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