Wiener Blut
Schminke fürs Tages-
lichtgesicht, Warten,
ohne Bett und Thermophor,
bis zum Umfallen.
Und plötzlich, inmitten
der kreischenden Kinder
hinten, am Kleid,
ein roter Fleck,
der sich in den nächsten
Sequenzen vergrößert,
bald den Bildausschnitt
fast ganz füllt; schließlich
nur mehr Nahaufnahmen:
Schweiß auf der Nase,
Zähne mit Zahnlücke,
verkrampfende Hände.
Und beinahe unsichtbar
im stillen Glasbehälter
beim Fenster die Schnecke.
Mit ihren vorsichtigen Fühlern
heimliche Hauptfigur,
zwiegeschlechtlich,
auserwählt fürs Überleben
am Ende des Drehtags.
(2.7.1979)
e.a.richter - 2014-03-25 13:00
Aufwachend les ich den Rauch
in der Wohnung. Gevierteilt
real springt die Wirklichkeit
durchs Fenster: mein Frühstück,
die schwarze Botin.
Ich trink die Buchstaben-Amazonen,
ich bad mich im Blut
von Kriegerinnen und Kraftfraun.
Ich wasch mich mit der Hoffnung
der Gläubiger, rasier
alle Zweifel ins Abortloch.
Gekämmt mit klaglosen Vorsätzen
wünsch ich meinen Nachbarn
Guten Tag durch die Mauer. Ich weiß,
sie sind alle ans Bett gefesselt,
verstümmelt von ihrer Angst.
Sie wollen mich auf keinen Fall kennen.
Auf ihnen tanzt die Freiheitsstatue,
ein totes Negerbaby im Arm.
Von oben rieselt Kaffee herein,
er stinkt und klirrt. Plötzlich
muß ich das Haus vorm Umfallen
bewahren, was mir nicht gelingt.
Ein Helikoptermann wirft ein Lasso
und rettet mich. Am Seil
baumelnd fall ich in einen Brunnen.
Dort wächst das Wasser täglich
einen Millimeter. Mein einziger Trost:
die Algen sind eßbar.
(20.4.1979)
e.a.richter - 2014-03-19 13:00
Plötzlich steht dieser H. da,
mitten im Waldviertel,
auf der Flucht vorm Föhn,
weder Kärntner noch Deutscher,
mit ausgestreckten Füßen da- und dorthin.
Und die andere Dimension, die sich auftut,
auch hier vorm Wasserloch im Steinbruch:
die Hortens und Krupps,
ihre armen Frauen,
seine reichen Freundinnen, fallweise,
Mischpoche, die ihn abstoßend
anzieht, fallweise.
Rückblickend kommt er
notgedrungen zum Schluß:
eigentlich lebt er im Konjunktiv,
schaffe aber immer, zwischendurch,
den Indikativ, das Geschäft,
das ihn rettet vorm endgültigen
sozialen Abstieg, vom BMW
zum zerfallenden Ford Taunus,
von Modellkleidern und Ledermänteln
zu lächerlichen Zehensocken
oder Handtüchern aus Hongkong.
Kurz untergetaucht, entgeht er,
wenn es brenzelt, immer
der legalen Verfolgung, verfolgt trotzdem,
illegal, seinen Lebenstraum,
knüpft Kontakte, schöpft
Sicherheit, kleidet sich neu ein,
tritt rücksichtslos
auf irgendeine Bühne, geschäftlich
oder als ehrgeiziger Autor,
der sich gleich die Teufel von Loudun vorknöpft.
Theoretisch kann er alles:
aus der Blumenverkäuferin in Köln
macht er eine FDP-Politikerin,
aus dem kleinen steirischen Pornohändler
einen feinen Binkel,
aus dem leidenschaftlichen Konzertbesucher
einen Ehemann, der die dreimal
geschiedene Schauspielerin
mit einem Löffel Spaghetti erstickt;
kurzum: aus dem kurzen Ernst
des Lebens erhebt sich stets ein Tremolo,
das seine Unbehaustheit noch mehr verstärkt.
(6.6.1979)
e.a.richter - 2014-03-17 13:00
1
Im Traum ist die Schule
ein riesenhaftes Gebäude,
verschachtelt, auf vielen Ebenen,
mit vielen Ein- und Ausgängen,
verfallende Pyramide
inmitten des Verkehrslärms.
Und irgendwo drinnen
seh ich mich als Lehrer, auf der Suche
nach dem richtigen Stockwerk,
die Schüler marschieren blind vorbei,
meine Angst nimmt zu,
ich verfehle die Klasse,
ich gerate ins Freie,
doch der Schulwart zieht mich um die Ecke,
es wird totenstill,
ich schleppe mich weiter,
über Treppen hinauf und hinunter,
es gibt kein einziges Zeichen,
das mir den richtigen Weg weist,
ich seh mich schweißgebadet,
entkleidet am Boden,
der Direktor tritt zugleich
aus der Wand und aus der Tafel,
er beruhigt mein Herz.
2
Mit einem verrückten Herzschlag
fängt diesmal die Schule
schon auf der Matratze an,
mit brennenden Augen,
Schmerz in den Schultern,
mit einem vom Schlaf zerknitterten Hemd,
mit Haferflocken in den Haaren,
der Frage nach dem Inhalt der Tasche,
mit klebrigen Büchern,
unleserlich beschriebenen Exzerpten,
mit Methodik und Didaktik
im kleinen Finger.
Und immer wieder
bin ich dann plötzlich weg,
weggeblasen, aufgesogen
von der trockenen Radiatorenluft,
Spielball beschnittener Schülerphantasien,
festgehalten von lautlosen Uhren,
vom Gong, vom Stundenplan,
von der Dienstpragmatik.
Und immer wieder
beginnt der Marsch im Kreis,
vorbei an offenen Klassen,
verwischten Gesichtern.
Mit einem Mal ist die Sonne
riesig hinter den Fenstern,
blutrot lockend: ich bleib stehen,
bis alle Schüler auf den Plätzen sind.
Die Tür fällt ins Schloß,
dreißig Träume fließen aus.
(12.1.1979)
e.a.richter - 2014-03-14 13:00
Herein! Herein!
Ein Hase im Frack
wackelt vorbei,
mit ihm die Aussicht
auf ein doppeltes Leben
(d.h. Lottchen, d.h.
Alice), und alles
ist neu verfügbar,
radikal veränderbar:
Größen, Volumen,
die Geschichte der Erdkugel,
die Schichten der Geschichte,
ohne Medienmythen,
ohne Radiokarbon.
(4.6.1979)
e.a.richter - 2014-03-11 13:00
Natürlich - der Mann
ist imposant, interessant, intelligent,
von unbeschreiblicher Präsenz
im Muttermund der Erfahrung,
im Kondom der Erinnerung:
mein Vater mein Bruder alle Soldaten
marschieren durchs Dorf,
der Lehrer, der Pfarrer,
Dominosteine dominant,
bis aufs Messer rasant,
rasierend; lavierend
zwischen Vergötzung und Abscheu
Angst und Überschätzung
neig ich zum kleineren Übel,
brühwarme Ablehnung, Schutz
vor der Einreihung in die Armeen
der Schwänze Gewehre Wolkenkratzer Totmacher,
totlachend die Männerembryomilliarden
in den Weiberleibern
oder ihre Aufzucht zur Unruhe,
zum schmerzversessenen Schweifen,
zu Rasierklingenmenschen, Gurgelabschneidern,
zu heiteren Sadisten im allgemeinen Sumpf,
zu Lederstrumpfattentätern, Verschwörern
gegen das verleugnete Matriarchat.
Auf den Spuren des Hinterkopfs,
in der Praxis des Abtastens,
des Reißverschlußöffnens,
der notwehrnötigen Enthaarung:
Was kommt dabei heraus?
Glänzende Leiber, zwiegeschlechtlich,
andersrum heftig und heil,
ausgestattet mit allen Vorzügen der Phantasie,
des unbekannten Spielmaterials,
und es öffnet sich
das Zeitalter wahnsinniger Vernunft.
(30.6.1979)
e.a.richter - 2014-03-08 09:00
Ein schwarzroter Adler aus Marzipan
legt sich aufs retardierte Bewußtsein,
schläfert das Gemüt schön weinselig ein.
Und herausspringt in trunkener Selbsthypnose
der Zweckoptimist, eine Kassette in der Kehle:
dort spielt sich immer wieder von selbst
die Operation Freiheit ab, ohne Rezept
für die Befreiung von den Befreiern:
Nonstop Konsens.
(18.1.1979)
e.a.richter - 2014-03-04 13:00
Kaspar ist tot, schreibt Arp,
aus der Kasperlhölle, wo er
in seinen Sätzen brät, seinen
Überraschungswendungen, Spießum-
drehungen, ohne Erklärung
der Monogramme in den Sternen,
ohne Büste auf allen Schauplätzen
des edlen Menschen, den es leider
nur in China gibt, jetzt tief
im Krieg gegen den sogenannten
Hegemoniefetischisten Viet-Nam.
Kaspar ist tot, schreib ich ihm
zurück aus dem Kasperlland,
wo ich kasparwörterlos, kasparwortlos
zum Lebenshandeln verurteilt bin,
zu Entscheidungen von heut auf morgen,
zwischen Stirn und Handrücken,
zwischen Augenauf- und Herzschlag.
Wer den ersten Stein von unten
hinaufwirft, antwortet Arp, trifft
ins Schwarze Loch, bombensicher.
(1.3.1979)
e.a.richter - 2014-03-01 13:00
(für Otto L.)
Nie wieder Ohropax, sagt K., nachher,
nie wieder nur Blutrauschen und die andern
Körpergeräusche, mühsam unterdrückt
durch absichtlich knackende Kiefer,
fast zehn Jahre lang diese unmerklich
vorrückende Zeit, ab und zu eine Zigarette,
ab und zu nützliche Schatten, die Frau
hinterm Küchentürglas, ihr lautmalend
geöffneter Mund, und nachts sogar
die Vorwarnung mit dem Licht am Gang.
So geht das wahre Leben, sagt K.,
an mir vorbei, vibriert weit
unter mir, und die Kopfhaut bebt,
die Exzerpte, Notizen wachsen,
die Niederschrift nimmt beharrlich zu.
Oft, wenn ich aufblicke, lassen sich Krähen
auf der Loggia nieder, fallen wie Kegel
auf meinen Wink neun Stockwerke runter
ins Kriegsspiel der Kinder,
auf die langsam auftauende Erde.
Und immer wieder, sagt K., träum ich
von einer Wiedergeburt: daß alle Fenster
aufplatzen, nachts, daß die Blätter
rausspringen mit einem Ultraschallknall,
von allen Türen ausgehend ein Sog entsteht,
daß ich mich endlich vors Haus wag, ungeschützt,
ohne Angstschweiß unter Menschen, in die Stadt,
um wieder, inmitten des alltäglichen Lärms,
sehen zu lernen, durch meine so schwer lesbare
Handschrift hindurch, was wirklich ist.
(8.1.1979)
e.a.richter - 2014-02-26 13:00
Der Karneval dauert scheinbar ewig,
der Vorhang hebt sich, das Theater beginnt,
Moliere schmiegt sich in den Schoß seiner Mutter,
sie singt ein Kinderlied und stirbt,
der Holzschuhbaum leuchtet, die Eiche rauscht,
Gadda hat Angst allein am Berg,
sein Vater verfolgt ihn mit seinen Fäusten,
der Herr fährt in seiner Kutsche vorbei,
die Pächter frieren.
Der Karneval dauert scheinbar ewig,
das Schaf wird erschlagen, auch Gaddas Neffe,
sein Mörder verbeißt sich in seiner großen Zehe,
die Ziehharmonika spielt Wiener Blut,
das junge Paar feiert Hochzeit im Kloster,
der Preis dafür ist ein Waisenkind,
das Theater segelt im Wind bis zum Abgrund,
die Steuereintreiber retten sich aus dem Fluß,
der Vorhang hebt sich, das Theater beginnt.
Moliere hustet heftig hinterm Vorhang,
der König zeigt seine Macht, indem er lächelt,
der Olivenhain ist erfroren,
das Waisenkind wächst frierend heran,
das Radio im Wasser jault Wiener Blut,
Gadda kann weder lesen noch schreiben,
Elektrizität fährt ihm ins Hirn,
es leuchtet von Fremdwörtern,
der Karneval dauert scheinbar ewig.
Der Vorhang hebt sich, das Theater beginnt,
plötzlich kommt hinter den Masken Blut hervor,
die Ordnungshüter räumen auf,
der Herr fährt in seiner Kutsche vorbei,
das Waisenkind weint, es hat keine Schuhe,
Gadda fährt nach Deutschland, ins Paradies,
Moliere schleppt sich die Stufen hinauf, er blutet,
der Holzschuhbaum leuchtet, das Waisenkind kriegt Schuhe,
der Herr vertreibt die Pächter.
Der Karneval dauert scheinbar ewig,
Moliere stürzt von der Bühne,
er stirbt und schlüpft in den Schoß seiner Mutter,
der Holzschuhbaumstumpf leuchtet,
die Bühne kracht in den Abgrund,
der König wird geköpft, der Herr vertrieben,
aus allen Radios auf den Bergspitzen ertönt Wiener Blut,
Gadda sitzt davor, sprechend und schreibend,
der Vorhang hebt sich, das Theater beginnt.
(4.1.1979)
e.a.richter - 2014-02-23 13:00