Sonntag, 2. Dezember 2012

DB-036 (15) (Das Hauptmotiv Ihres Lebens)

Das Hauptmotiv Ihres Lebens ist die Suche nach der Wahrheit. Bravo, nickt Oskar und bewegt lautlos zustimmend die Fingerspitzen gegeneinander. Zu Ihren Tugenden gehört Ihre gerechte Empörung, besonders über Menschen, die unter sehr schwierigen Bedingungen existieren müssen. Sie sind stolz auf Ihre intellektuellen Fähigkeiten und Leistungen, aber nie zufrieden mit Ihren gefühlsmäßigen Bindungen. Zwar sind Sie fähig, liebevoll und treu zu sein, aber eigentlich brauchen Sie eher eine freundliche und witzige Kameradin als eine Partnerin für heiße Leidenschaften. Wenn Sie jedoch die Liebe packt, so bringt Sie das in große Verlegenheit.

Du hörst, wozu eine gutgelaunte Tochter imstand ist: Sie entwirft mit wenigen Strichen ein treffendes Charakterbild ihres Vaters, lockert zugleich die Kruste über alten Wunden.

Während Lydia ihre Vorzüge relativieren will, beharrt Oskar darauf, daß seine Frau in der Tat voller Witz und jederzeit zum Pferde-Stehlen zu haben sei, was Beate mit der Bemerkung kontert, er begnüge sich gewöhnlich mit einer negativen Definition, auch seiner Person.

So kann sie ihren Vater nicht loswerden: Er kreuzt gekonnt ironisch seine Hände vor der Brust und erinnert sie an den berühmten Satz Spinozas: Omnis determinatio est negatio. Es handle sich also um eine dialektische negatio. Er macht einen Schritt zu mir hin, wendet sich aber, eine Reaktion abwartend, seiner Tochter zu, die sich nun nicht mehr halten kann und loszulachen beginnt, allerdings nicht prustend, sondern leise beherrscht.

Oskar ist in seinem Element: Er wolle nun doch kurz bei der Negation bleiben, nicht der logischen, bei der dialektischen natürlich, die Maestro Hegel in die doppelte Bedeutung des Begriffes aufheben gefaßt habe. Er kneift die Augen zusammen und zitiert: Aufheben habe in der Sprache den doppelten Sinn, daß es soviel wie aufbewahren, erhalten bedeute und zugleich soviel wie aufhören lassen, ein Ende machen - so sei das Aufgehobene stets auch ein Aufbewahrtes.

Genf, Genf muß ich denken, aber es folgt kein deutliches Bild, nur der Nachklang meiner damaligen Bewunderung für Oskars sanfte Geburtshilfe, was die Vertiefung in die Werke der Vordenker des 19. Jahrhunderts betrifft.

Mit einem auffordernden Pfiff dampft Oskar auf Lydia zu, aber Beate nimmt ihr den Satz vorweg, den sie vielleicht schon auf der Zunge hatte, demonstriert die Einstimmigkeit ihres Gedächtnisses: Die Negation einer Position, einer bestimmten Qualität enthalte demzufolge nicht nur das Moment des Hinausgehens über die Grenze dieser Qualität, des Übergangs derselben in eine andere, sondern bewahre zugleich das als positiv in der alten Qualität Gesetzte in sich auf.

Genf, Genf muß ich denken, und es gelingt mir, mich in diese demonstrative Harmonie zwischen Vater und Tochter einzuschleusen: Was sich aufhebt, wird dadurch nicht zum Nichts! (Hörst du: Mit welch tröstlichen Worten spricht der Staub zu uns!) Ein Aufgehobenes ist das Nichtseiende, aber als Resultat, das von einem Sein ausgegangen ist! (Hörst du: Liebe stirbt nicht!) Es hat daher die Bestimmtheit, aus der es herkommt, noch in sich! (Mein Nicht-Erinnern-Können ist Pose, Lüge! Ich stilisiere mich aus Angst vor den Folgen zu einer Gedächtnislosen, zu einer, die in dem älter gewordenen Liebhaber den jüngeren nicht mehr erkennen will!)

Als Negation der Negation (und damit der Bestimmung des Augenblicks, der den Anschein einer losgelösten Starre angenommen hat) erscheint jetzt Götz, ganz Arbeitsmensch: mit eiferrotem Gesicht, Wasserflecken auf der Hose, feuchten Händen: Er hat die Wäsche aufgehängt, Sascha zur Generalreinigung in die Badewanne gesteckt. Er übersieht seine Schwiegereltern, stoppt seinen Schwung nicht und läßt sich an ihnen vorbeischnellen, was Oskar daran erinnert, daß er ja nur auf einen Sprung vorbeigekommen ist, um zu sehen, ob alle wohlauf zuhause eingelangt sind.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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