Donnerstag, 20. Dezember 2012

DB-049 20 (Die Ehrlichstraße ein Stück rauf)

20

Die Ehrlichstraße ein Stück rauf, immer bedacht, den Platten in der Mitte des Gehsteigs zu folgen, um dann von der Liepnitzstraße aus den Seepark zu betreten, der gerade umgestaltet wird.

Gegen den Widerstand der Bevölkerung, besonders der Kinder, wie Beate vorhin in der Küche gesagt hat, während sie das von Götz für sie vorbereitete Frühstück eher lustlos hinuntergeschlang, um sich dann die Kleiderschürze umzubinden und systematisch die Küche zu putzen, den Kühlschrank, die Kästchen, die Küchentür, und das mit einer Genauigkeit, einer Inbrunst, die die Aussagen ihres Ehemanns Lügen straft.

Hinter den neuen Betonspielplätzen baut sich eine lange Mauer auf, die die Trautenauer Straße vor einer Möbelfabrik abgrenzt. Dort verläßt Stefan den Park, um quer durch die Siedlung Wuhlheide zu einem Wäldchen vorzudringen, das vor allem aus Birken und Fichten besteht.

Der dritte Akt hat sich verzögert, der Regisseur ist auf die Bühne getreten, um Kritik am Theater zu üben.

Stefan wehrt sich nicht, daß er nur atmen und gehen muß. Währenddessen Fragmente eines Streitgesprächs zwischen dem handelnden Helden und dem seinen Text ihm verschreibenden Regisseur.

Stefan muß die würzige Luft des letzten Tags dieses Jahrs bewußt ein- und ausatmen, angesichts der Tatsache, daß morgen - im neuen Jahr - bereits ein anderer Wind wehen wird. Und er muß diese Bäume betrachten, als wären sie die letzten Bäume seines Lebens: diese weißen Birkenstämme, ihr feines Geäst, und dazwischen die niedrigen, immergrünen Fichten, hinter denen plötzlich rechts vom Weg sich ein Zaun abhebt, ein umgittertes Areal, auf dem etwa zwanzig Militärfahrzeuge abgestellt sind, von einem Turm aus von Soldaten bewacht.

Beim geöffneten Tor stehen einige ihrer Kameraden herum, fünf oder sechs formieren sich zu einer Reihe und marschieren auf das Kommando des ersten über den Waldweg in Richtung Dunckerstraße, wobei sie an dem sie musternden Stefan vorbeimüssen: sehr junge Burschen mit asiatischen Gesichtern unter den zurückgeschobenen Helmen und hervorquellenden schwarzen Haaren, ihre Augen nur kurz und scheu in Richtung Stefan drehend.

Der Held kritisiert den Realismus des Autors: Daß er einen verantwortlichen Genossen in ein solches Licht setze, sei lebensfremd, unnatürlich. Der Regisseur verteidigt den Autor mit dem Hinweis, daß er mit Genehmigung des Amtes für Literatur ausnahmsweise einen negativen literarischen Typ vorführen wollte. Der Held kritisiert das Träumertum des Autors und setzt dagegen die genaue Berechnung von Aufwand, Mittel und Wirkung.

Stefan berechnet nichts, blitzartig stellt sich die Erinnerung an eine Erzählung seiner Mutter ein - der Regisseur lächelt, der Held tobt -: Beim Einmarsch der Russen ist Stefans älterer Bruder noch nicht einmal ein halbes Jahr alt gewesen. Die Mutter hat aus irgendeinem Grund einen Kochlöffel in der Hand, als die Küchentür aufgeht und ein russischer Soldat hereinstürzt, sie einen Augenblick wütend mißt, zu ihr tritt, ihr den Kochlöffel aus der Hand reißt und ihn an seinem Knie in kleine Stücke zerbricht.

Danach das freundliche Palaver des Soldaten mit dem Baby im Kinderwagen. Es ist gelegen, hat sich die Mutter erinnert, und der Soldat hat gefragt: Sitzt nicht?, und Stefans Mutter hat den Kopf geschüttelt, aber der Soldat hat Stefans Bruder einen Polster hinter Kopf und Rücken gestopft, in die Hände geklatscht und immer wieder stolz auf seine Wundertat hingewiesen: Sitzt, Frau, schau, sitzt!

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

(Blick zum Nachbarn: B-07 PALME/RICHTEX, BAHNALOG)

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