Dienstag, 4. Dezember 2012

DB-038 (16) (Julia findet ein zusammengeknülltes Papiertaschentuch)

Julia findet ein zusammengeknülltes Papiertaschentuch, das Stefan um seinen Daumen windet. Dein Kind möcht ich nicht sein, sagt Julia spitz. - Warum? - Bevor du bemerkst, daß es in Gefahr ist, ist es schon ertrunken!

Ich schau eben lieber zu, verteidigt sich Stefan und glaubt, endlich einen weiterführenden Gesprächsstoff gefunden zu haben: die Erziehung der Kinder, im besonderen: die Zurichtung des noch fürchterlich formbaren Uwe in der Strampelhose.

Julia betont, daß er schon sauber sei, trotz seiner fünfzehn Monate, und hält dieser Leistung die ihr unangemessen erscheinende westliche Lösung entgegen: Ihr laßt eure Kinder jahrelang in der Scheiße leben und erwartet, daß sich das Problem von selbst löst!

Stefan lacht erleichtert: endlich kann er zuschlagen. Seine Scheiße sei ihm kein Problem gewesen, kontert er und übersieht, daß ihm Julia die Brote unter der Hand wegnimmt, um sie mit Butter und Käse zu bestreichen. Scheiße ist Käse, sagt sie und bleckt ihre Zähne.

Stefan beschließt, sie zu testen. Er erinnere sich noch gut daran, wie er als Kleinkind mit nackten Füßen durch den Kot des Hofes gelaufen sei, welches Vergnügen es ihm bereitet habe, wenn der Hühnerdreck zwischen den Zehen hindurchgequollen sei, wenn er die Rinnsale der Jauche vom Misthaufen aus hinaus in den Garten habe verfolgen können oder sich mit seinen Freunden im Schlamm des Baches hinterm Garten gewälzt habe.

Julia legt drei Teller auf den Tisch und verteilt darauf die Brote, wobei sie Stefan einen spöttischen Blick zuwirft: Dreck ist nicht Scheiße. Und meines Wissens hat ein Kind nur einen Vorteil davon, wenn es möglichst früh seinen Schließmuskel beherrschen kann.

Aber das ist doch Erwachsenenansicht, wendet Stefan ein, Erwachsenendrill. Es geht doch darum, möglichst wenig Druck auszuüben, möglichst wenig Angst zu erzeugen; den Angstdruck zu vermindern oder noch besser: gar nicht so früh aufkommen zu lassen.

Natürlich, sagt Julia und weist auffordernd auf die Teller, die dann Stefan mit beiden Händen neben ihr, nachdem sie ein Tablett mit Besteck und Limonadeflaschen an sich genommen hat, hinauszubalancieren versucht. Natürlich, was ist natürlich, was ist Druck? Der Uwe macht, wenn er kann; und wenn er nicht kann, steht er auf. Das wird von allen akzeptiert.

Sie durchqueren das Vorzimmer. Ludwig verläßt gerade das Bad, geschrubbt und aufgewärmt, sein glänzendes Handwerkergesicht, seine gefestigte Freundschaft anbietend, und stößt ihnen die Tür zum Wohnzimmer auf.

Stefan fragt, wo bleibt die Lust? Julia sagt, die Lust Uwes bestehe darin, daß es ihm in der Krippe jetzt besser geht, weil er schon ein Gefühl für seinen Drang hat. Trotzdem beharrt Stefan darauf, daß man ein Kleinkind nicht so bald von seiner Scheiße befreien soll.

Jaja, die Lust, schließt sich Ludwig Stefan an, die wird zum Frust. Er setzt Uwe auf seinen Kinderstuhl und zerdrückt ihm in seinem Teller eine Banane, die Uwe schnell und routiniert in sein Mündchen befördert.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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