Dienstag, 18. Dezember 2012

DB-047 (19) (Etwas in mir denkt)

Etwas in mir denkt, daß in einem bestimmten Augenblick der Vergangenheit ein gefährlicher Schatten aufgetaucht sein muß, der jetzt, wäre er nicht wieder gewichen, so etwas wie ein Bub im Alter Saschas sein könnte. Dieser flüchtige Schmerz verschließt mir die Augen, sodaß ich gar nicht mitkriegen wie sich die Kinder einigen.

Da es draußen ruhig geworden ist, ziehe ich mich schnell an. Aus der Wechselrede der Buben erfahre ich, daß ihnen als Weihnachtsbaum auf Rügen eine skurrile Baumwurzel aus dem Meer gedient hat, daß Professor Sascha Lang ein Rennauto, zwei Matchbox-Autos, einen Gürtel, Handschuhe und ein Lottospiel, Doktor Boris Lang dagegen ein 500er-Puzzle, ebenfalls Autos und Handschuhe und einiges zum Anziehen bekommen hat (du siehst, wie gut mein Gedächtnis - bei Nebensächlichkeiten funktioniert); dazu (wie alle) einen Bunten Teller mit Marzipanbrot und einem Schokoladeweihnachtsmann; und Götz ein Exquisit-Hemd und Beate eine extra von Boris gedichtete wahre Gruselgeschichte.

Bevor diese in voller Länge über mich hereinbrechen kann, verdrücke ich mich, werde aber von Stefan beim Öffnen der Eingangstür ertappt. Er will mich zuerst zurückhalten, entschließt sich dann aber, mich ein Stück zu begleiten.

Sofort will er eine Erklärung für mein Weggehen, und als er die nicht kriegt, versucht er es mit einer Ablenkung. Wir sind inzwischen beim Leimkohl-Haus in der Rankwitzstraße angekommen. Der Leimkohl, sagt Stefan, auf das Haus vor uns weisend, das eine Leuchttafel über der Tür trägt, in der oben halbbogenförmig das Wort LEIMKOHL, darunter STAUBSAUGER zu entziffern ist, der Leimkohl sei laut Götz eine Art Wilhelm Tell von Karlshorst gewesen. Immer im Kampf gegen die Obrigkeit im Dienste des Restes von Privatwirtschaft. Das in der Art der Anzeigen aus den zwanziger Jahren stilisierte Frauenporträt auf der Hauswand soll die Gattin Leimkohls darstellen, die ihm vor Jahren, schon nicht mehr die Jüngste, mit einem amerikanischen Millionär durchgegangen sein soll.

Im Ziergarten vorm Haus ein Standbild zu Lebzeiten: Herr Leimkohl persönlich, vermutet Stefan, von der Witterung und dem Kohlenruß geschwärzt, mindestens ein Drittel unter der natürlichen Größe. Leimkohl soll dann, nachdem er die Lust zu weiteren Erfindungen, die wohl die Meßlehre in der Hand und das Frauenfigürchen überm Ohr symbolisieren soll, verloren hatte, unentwegt mit einem Staubsauger auf der Kühlerhaube seines Autos durch die Lande gekurvt sein. Es soll ihm aber vor nicht allzu langer Zeit die Erlaubnis, Staubsauger zu reparieren, entzogen worden sein, wegen angeblicher Steuerhinterziehung und anderer Ungesetzlichkeiten.

Ja und? Stefan ist so vernünftig und kehrt um, nachdem er merken muß, daß meine Laune sich nicht geändert hat.

In der S-Bahn geht es mir schlecht. Ich mag die Leute, die sich so drängen, aus der Stadt hinausbefördert zu werden, überhaupt nicht. Ich mag sie nicht ansehen müssen. Ich mag sie nicht riechen müssen. Die Vorstellung, daß jemand an mir anstreift, macht mir Angst. So lasse ich mich vermummt, ein Bündel unauffälliger, weggeschlossener Eigenschaften, von einer mir unbekannten Station zur andern befördern, blicke ohne eigentliches Interesse hinaus, nehme nur Schemen wahr und halte mich im Stadium künstlicher Schläfrigkeit.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

(Blick zum Nachbarn: B-05 PALME/RICHTEX, BAHNALOG)

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