DB-75 (27) (Oskar hält leider nicht viel von meinen Träumen)

Oskar hält leider nicht viel von meinen Träumen, betont lieber, wie lustvoll es sei, mit mir essen zu gehen, und erinnert mich an ein gewisses Bistro in Genf, wo er sich im Schlepptau seines Freunds Léon zum Gourmet entwickelte. Das konnte er glänzend nach dessen Vorbild mit seinem Parteiauftrag vereinen.

(Ich erinnere mich prompt an ein anderes, Au pied de Cochon, Bourg-de-Four, das mit Oskar allerdings nichts zu tun hat: Dort traf ich mich mit einem reichen Südfranzosen, um Geld damit zu verdienen, ihm einmal in der Woche Gesellschaft zu leisten, was immer eine höchst vergnügliche Mischung aus Reden, Essen und Trinken gewesen ist. Einzige Gegenleistung: die Befolgung seiner Kleidervorschriften. Er liebte hochhackige Schuhe, enge, hochgeschlossene Kleider und Ledergürtel. Die intimste Annäherung bestand darin, daß er mich manchmal bat, unterm Tisch meine Stöckel auf das dünne Leder über dem Rist seiner Schuhe zu setzen und die mit aller Kraft so lange zu drehen, bis er den Schmerz nicht mehr aushielt.)

Oskar hüstelt, er sei eigentlich ein wenig verkühlt, hoffe, er habe mich nicht inzwischen schon mit seinem Pesthauch angesteckt. Eigentlich sei er heute recht schwach.

Ach, dein Herzschmerz, mein Lieber, sag ich, und das klingt ironischer, als es gemeint ist.

Er lenkt das Auto in die Rillestraße. ja, das wirkliche Herz sei ein launischer Geselle. Doch das symbolische scheine nicht mehr durch bei seinem Alter. Die Arbeit, die Pflicht, die Loyalität umgebe ihn wie ein Panzer. Aber er habe doch noch Sinn für Höhepunkte als Folge eines intellektuellen Bälle-Hin-und-Herwerfens, fügt er hinzu und steigt aus.

Oben stellt sich heraus, daß Lydia nicht da ist. Er habe ihr Landluft verordnet, erklärt Oskar verschmitzt. Gleich danach korrigiert er sich, er will ja keinen Eindruck schinden: Sie habe von selbst für ein paar Tage die Wohnung geräumt, damit er endlich das Material für seinen nächsten Artikel ordne und aufarbeite. Aber mich zu empfangen sei ja auch Arbeit. Traurige Arbeit, weil der Abschied immer näher rücke. Er sei nämlich noch immer kein Meister im Abschiednehmen. Sofort überschüttet er mich mit Komplimenten: wie unverändert, wie noch immer die Jugend in Person, das Mädchen, das rot anlief, das Kind, das sich vor ihm versteckt hat. Und er verbeißt sich in Detailfragen zu meiner Gegenwart: Wie man denn so lebe, freischaffend?

Indem man sich ständig in Panik befindet, weil man einem ständigen Wechsel der Interessen ausgeliefert ist. Indem man die jeweils zentralen Wünsche zurückstellt, weil man einem ständigen Druck von außen unterworfen ist.

Schließe ich mich ab, sage ich, schert sich kein Teufel um mich. Also muß ich mich ständig, obwohl ich das gar nicht will, anpreisen. Da ich vom Übersetzen nicht leben kann, muß ich ständig auf der Suche nach Themen und Menschen sein, die diese Themen illustrieren, muß ich ständig eine Aufreißhaltung einnehmen, ständig auf der Suche sein nach einer Zeitung oder Zeitschrift, die mir einen Artikel abnimmt. Dazu komme dann noch der Rundfunk, wo ich immerhin eine gewisse Sicherheit habe, daß mindestens alle zwei Monate eine Sendung gemacht wird. Alles hänge letzten Endes von meinem Fleiß ab, von meiner Kraft, die Trägheit zu überwinden, aus dem Chaos der Gefühle herauszufinden.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

Trackback URL:
https://earichter.twoday.net/stories/db-75-27-oskar-haelt-leider-nicht-viel-von-meinen-traeumen/modTrackback

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Free Text (1)

Dieses Weblog wird hier archiviert.

Archiv (ab 1967)

Lyrikbände:

Der zarte Leib

Friede den Männern

Das leere Kuvert

Eurotunnel

Obachter

Schreibzimmer

Romane:

Die Berliner Entscheidung

Originalverpackt oder mit Widmung über e.a.richter(ett)gmx(punktt)at erhältlich.

„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

Fliege. Roman eines Augenblicks

Aktuelle Beiträge

0126-1b A KIND OF DEPARTURE
the lady of the house speech-impaired since an incomprehensible...
e.a.richter - 2015-12-30 07:09
0126-1a AUCH EIN ABGANG
die gnädige frau sprachgestört wohnt sie seit einem...
e.a.richter - 2015-12-26 03:43
0107a - THE TEACHERS
the teachers leave the school the prettiest teacher...
e.a.richter - 2015-12-23 21:27
DT-001 FETISCH
(YVONNE) ihre weiße Bluse steif, ein Fetisch, der...
e.a.richter - 2015-12-21 12:12
DZL-18 DAS BETT
das Bett, das alles verraten wollte und nichts verriet:...
e.a.richter - 2015-10-07 04:22
DZL-17 PUPPI
was zu sehen ist, in einzelne Stücke zerlegen; alle...
e.a.richter - 2015-06-02 08:44
DZL-01 WIR GLAUBTEN AN...
wir glaubten an das Blut. Dieses Wir ist mit Vorsicht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:59
DZL-02 MEIN PATTEX
mein Zauberer hieß nicht Pattex, nicht Expatt. Er lebte...
e.a.richter - 2015-05-07 13:58
DZL-03 DER ZARTE LEIB
Zartleibigkeit wird vermißt, auch intensive Zartlebigkeit....
e.a.richter - 2015-05-07 13:56
DZL-04 - ZU MEINER ZEIT
zu meiner Zeit war gar keine Zeit. Die Zeit hatte sich...
e.a.richter - 2015-05-07 13:55
DZL-06 IN DIE HÖHE SINKEN
schwierig zu lesen: Er begriff seine Geschichte. Blatt...
e.a.richter - 2015-05-07 13:53
DZL-07 TISCHLERPLATTE
mein Vater, Tischler, hatte keine Tischlerplatte, er...
e.a.richter - 2015-05-07 13:52
DZL-08 GOLD, GLANZ, HEITERKEIT
sie sagt, ich bin älter als mein Vater, als er zu...
e.a.richter - 2015-05-07 13:51
DZL-09 WIR GLAUBTEN AN...
wir glaubten an das Blut. Dieses Wir ist mit Vorsicht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:51
DZL-10 BRAUTMASCHINE
ein Mann braucht nur eine Wand und eine Braut. Er braucht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:50
DZL-11 SCHWIMMERIN
wenn sich das Tor geöffnet hat, fährt allen in ihren...
e.a.richter - 2015-05-07 13:50
DZL-12 FRESSEN UND WUCHERN
Gedichte zu fressen ist nicht meine Sache. Ich lese...
e.a.richter - 2015-05-07 13:49
DZL-13 KONTROLLE VERLIEREN
Kontrolle verlieren, im Nebenraum, wo alles aufgetürmt...
e.a.richter - 2015-05-07 13:49
DZL-14 MUNDSCHUTZ FÜR...
es begann mit strahlenden Augen, auf einer Schnitzerei...
e.a.richter - 2015-05-07 13:48
DZL-15 JUNGE FRAUEN...
dem kleinen Mann macht die Situation einen Gefallen: zwei...
e.a.richter - 2015-05-07 13:48

Free Text (2)

Free Text (3)

Archiv

Februar 2013
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 
 
 2 
 4 
 5 
 7 
 9 
10
12
14
16
18
20
22
24
25
27
 
 
 
 

Suche

 

Status

Online seit 5057 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 2016-01-06 11:08

Credits


A Roma etc.
Das leere Kuvert
Der zarte Leib
Detonation und Idylle
Die Berliner Entscheidung
Erste Instanz
Eurotunnel
Fliege (Notizen)
Friede den Männern
Jetzt
Licht, Schatten
Namen
Obachter
Pessimismus & Erfahrung
Schreibzimmer
Stummfilmzeit
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren