Dienstag, 26. Februar 2013

DB-82 (29) (Was denn?)

Was denn?

Etwas mit Stefan, deinem Stefan. Sie halte es nicht aus, gerade jetzt nicht, wo wir einander so nahegekommen seien. Wenn ich nachhause gefahren sein würde, wäre es für sie vielleicht furchtbar, diese Gelegenheit nicht genützt zu haben. Wobei (sie schränkt meine Befürchtungen gleich wieder ein) das alles nicht so ernst zu nehmen sei. Stotternd, beinahe rot geworden vor Vorbereitungseifer kommt sie auf ihren Ludwig zu sprechen und das Leben, das sie mit ihm führt, eng und beschaulich. Die Kinder. Die Krippe. Die Schule. Ludwigs Kurse. Die Sonntage. Die Nächte.

Ich will sie nicht demütigen, lasse sie nicht länger herumstammeln. Ich verstehe: Stefan hat ihr Avancen gemacht, und sie ist darauf hineingefallen.

Nicht hineingefallen, korrigiert mich Julia, es sei doch ihre Entscheidung gewesen. Sie möge vielleicht jetzt ein wenig hilflos erscheinen, aber in solchen Situationen wie der mit Stefan sei sie das nicht. Sie habe das zuerst völlig abgelehnt, dann aber heftigst begehrt. Nicht Stefan sei ihr wichtig gewesen, sondern dieser Akt, der ihr bewiesen habe, daß sie noch nicht zugeschüttet, noch nicht abgestorben sei. Kein lauwarm tröpfelndes Zärtlichkeitsgeschmuse sei es gewesen, wozu es sie getrieben habe, sondern ein Ringen auf Leben und Tod; ein Untergangsdrama, das ihr erlaubt habe, wieder aufzustehen und sich als ganzer Mensch zu fühlen.

Ja, was soll ich darauf sagen. Ich bemerke, daß die Teller noch auf dem Tisch stehen, die Essensreste, was mir Anlaß genug ist, aufzustehen, abzuräumen, Wasser in die Abwasch einzulassen. Es ist doch überhaupt nichts geschehen. Jeder soll zu seinen Gefühlen stehen. Jeder Austausch ist überall möglich, wenn er möglich ist. Niemand hat mich betrogen, ich fühle mich durch Julias Wahrhaftigkeit geehrt.

Dann die andere Version: Mein Freund betrügt mich mit meiner Cousine, die vorgibt, meine beste Freundin zu sein, derzeit. Die klein, unscheinbar und begossen dasteht und eine Strafe erwartet, damit sie sich selbst nicht bestrafen muß. Ich als ihr Werkzeug, Strafgöttin. Aber die härtere Strafe ist die Strafverweigerung. Daher vorerst einmal Funkstille, behendes Vor-sich-Hinarbeiten, Versinken in der Wiederholung bestimmter Körperbewegungen. Wegwischen, was hier aus dem sprudelnden, schäumenden Wasser auftaucht, glänzendes Geschirr, mich widerspiegelnd, nur mich.

Plötzlich ein Wecker, der Julia daran erinnern soll, ihr Kleinkind abzuholen. Ich verspreche ihr, der vor ihrer Rückkehr aus der Schule heimkommenden Nicole zu öffnen, weil sie den Schlüssel nicht mitgenommen hat.

Lang halte ich das Alleinsein mit meinen Aggressionen nicht aus. Hinaus, immer größere Kreise, Verlängerung der Bedenkzeit, zunehmender Schmerz, der in Bewegung umgesetzt werden muß, mich schließlich zu einer Fahrt mit der S-Bahn anstachelt, zum Zentrum, zur Anonymität, zum Unterschlupf in einem gleichgültigen Hotelzimmer unter die gleichgültige Decke, die gleichgültige Brause, wo mich Stefan nie finden wird, sollte es ihm einfallen, mich suchen zu wollen.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

***

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