Dienstag, 29. Januar 2013

DB-70 25 (Stefan ist nicht zu halten gewesen)

Stefan ist nicht zu halten gewesen, wollte mich zuerst dazu überreden, ihn nach Oranienburg, früher Sachsenhausen, zu begleiten, hat aber trotz seines Bettelns allein fahren müssen. Am späten Nachmittag wieder eingetroffen, hatte er noch immer nicht verstehen wollen, daß ich nicht mitkommen konnte.

Stell dir mich als KZ-Touristin vor! Er gibt zwar zu, selbst im Zwiespalt gewesen zu sein, aber nicht anders gekonnt zu haben. (Sein Vater, durch viel Glück erst im letzten Kriegsjahr eingezogen, geriet noch während seiner Ausbildung in amerikanische Gefangenschaft, und zu Weihnachten 45 war er schon wieder zurück bei Stefans Mutter und seinem älteren Bruder.)

Stefan will genau wissen, was ich ertragen kann, und zwingt mich zu Abgrenzungen: Kein Augenschein! Keinen Fuß auf die Erde am Ort der Vernichtung!

Ich habe genug Bilder gesehen, Bücher gelesen. Nicht gleich nach der so verspäteten Aufklärung durch meinen Vater. Langsam, langsam hab ich alles durchschaut. Langsam, langsam ist ein Bild der Verfolgung, der Opfer und ihrer Mörder entstanden.

Aber schnell hat sich eine Angst eingestellt, sich der Familienangst hinzugesellt: die Angst, daß noch immer nicht alles vorbei sei, die Angst, daß der unscheinbare Nachbar der Mörder meiner Verwandten gewesen sein könnte. Denn auch jetzt kannst du die Wahrheit nicht laut hinausschreien. Du mußt froh sein, zu den Überlebenden zu zählen, zu denen, die zurückgekehrt und untergetaucht sind.

Stefan drängt mir seine Bilder auf: die lange Fahrt, verzögert durch den Pendelverkehr zwischen Rummelsburg und Betriebsbahnhof Rummelsburg; der Anmarsch durch den Ort in Richtung Gedenkstätte.

Hinterm Tor der weite, leere Platz, der schmutzige Schnee. Weit weg das Mahnmal. Davor, im Halbrund zu beiden Seiten, eine Mauer, die die Stirnseiten der früheren Baracken erkennbar verbindet. Rechts im leeren Feld eine kleine verrostete Straßenwalze.

Zwei Radfahrerinnen, dick vermummt, die lachend vorbeikurven. Bei der Annäherung an das Mahnmal das Lauter-Werden von zwei Geräuschen: das Prasseln der Flammen des Ewigen Feuers (es habe geprasselt wie beim Schmalz-Auslassen) und das Röcheln des Gullys daneben, in den das Schmelzwasser abfließt. Und links der schöne Baum, schön bis in die feinsten Verästelungen.

Der hätte hier nicht wachsen dürfen, sagt Stefan. Er habe nur den Gedanken gehabt, daß an dieser Stelle die Erde hätte unfruchtbar bleiben sollen, kahl in alle Zukunft. Zugleich habe er denken müssen, das Blut der Begrabenen nähre immer wieder von neuem das Gras und die Bäume. Aber deren Qualen und Leiden wölbten die Erde nicht, bis sie explodiert, sondern seien mit ihnen eingeäschert, zu Staub geworden.

Die Reste der Öfen. Die Grundfesten der Anlage, in deren Mitte sich der Genickschußraum befunden hat, jetzt ein Modell unter einem Dach. Dahinter eine Skulptur, von der der schmelzende Schnee tropft. Weiteres wehre ich vehement ab.

Dann wieder eines dieser Leichenfotos. Ich kann nicht wirklich hinsehen, obwohl ich mich schon oft gezwungen habe hinzusehen, ohne die Angst vor den Konsequenzen zu verlieren: immer diese Annäherung ans Aushalten-Müssen.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

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