Donnerstag, 21. Februar 2013

DB-80 29 (Die Katastrophe)

29

Die Katastrophe, erwünscht oder nicht, der Zusammenbruch. Ich werfe dir vor, daß du deine Schirmfrauschaft nicht wahrgenommen hast, daß du mich im Stich gelassen, mich ausgeliefert hast, daß du dich zu einem Hirngespinst von mir degradieren ließest. Du hast mir keine passende Verkleidung angeboten, mich in meinem Panzer verrecken lassen. Du hast mir nicht einmal brauchbare Schlagwörter geliefert, die mir den Rückzug erleichtert hätten. So ist daraus eine unbedachte Flucht geworden, unter Zurücklassung allen Gepäcks. Natürlich kannst du zu deiner Verteidigung sagen: Das war vorauszusehen. Unter einem Dach mit einem solchen Mann, unter solchem Selbstverleugnungsdruck hätte ich es sowieso nicht länger ausgehalten.

Du kannst mich bewundern: Es ist kein unüberbrückbarer Bruch provoziert worden, sondern nur ein Erholungsaufenthalt auf scheinbar sicherem Terrain. Julia ist überhaupt nicht überrascht gewesen, als ich am frühen Vormittag bei ihr aufgetaucht bin. Sie hat gleich verstanden, daß da Konflikte in der Luft gelegen sind. Hat gesagt, es habe sie frappiert, daß ich dieses Mannstrumm, das alle Frauen auf ein Zwergenmaß verkleinert, überhaupt so lang ausgehalten habe. Julia will unbedingt Details herauskitzeln, aber wozu?

Für dich: Nicht Götz ist der unmittelbare Anlaß zum Verlassen des Hauses gewesen, sondern die Aufregung um Stefan. Daß er über Nacht bei Josef bleiben würde, war vorauszusehen. Aber warum hat er nicht angerufen? Was ist passiert, das einen Anruf verhindert hat? Ist ihm etwas zugestoßen? Die Verbindung hat eben nicht funktioniert. Oder er wollte nicht mehr so spät telefonieren, und jetzt schläft er noch? Um neun Uhr jedoch nicht mehr, also hab ich Grund zur Sorge.

Dann endlich seine Stimme, die mir alles erklärt, wozu ich aber keine Erklärung abgeben kann. Er bleibe drüben, sagt Stefan, er habe mich schon mehrmals zu erreichen versucht, aber es sei immer besetzt gewesen. Die üblichen Floskeln. Dann die Sache mit dem Paß, die auch erlogen sein kann. Daß es dauern würde, sagt er, daß es nicht so schlimm sei, obwohl er nicht verstehe, wie er so wenig aufpassen konnte.

Er wolle eben nicht zurückkehren, halte ich ihm vor. Aber er verweigert jede tiefenpsychologische Deutung. Wie lange er drüben bleibe, hänge von derzeit nicht absehbaren Faktoren ab. Zuerst müsse er aufs Konsulat, was erst am Montag geschehen könne. Ich vermute, er hätte nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft, um doch noch heute über die Grenze zurückzukommen. Er sagt, ich unterstellte ihm, daß er bewußt eine rasche Rückkehr verhindern wolle. Ich sage, ich fühlte mich allein gelassen. Er rät mir, mich nicht mehr mit Götz einzulassen.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

***

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