Freitag, 1. Februar 2013

DB-71 (25) (Er empfinde eine eigentümliche Erregung)

Er empfinde eine eigentümliche Erregung, sagt Stefan, beim Anblick von angehäuften nackten Leibern auf Fotos. Aber nicht das Totsein interessiere ihn, sondern das Verstümmeltsein. Und er spüre immer wieder den gleichen Widerspruch in sich: Er möchte alles genau sehen, alle Verletzungen im Detail; er möchte die zerrissenen, geschundenen Menschenleiber so in sich aufnehmen, daß sie niemals mehr aus seinem Gedächtnis schwinden können; er möchte, was sonst schleunigst verhüllt wird (Fleischstücke, Köpfe, Teile von Gliedmaßen), schamlos enthüllen. Zugleich verdecke aber diese mitleidlose Neugier einen Drang zum Alles-Wissen. Er wolle immer allem an die Wurzel gehen, daher auch an die Wurzel des Verbrechens.

Mein Zynismus läßt ihn zurückzucken, schuldbewußt: An welche Wurzel ich denn gehen solle - an die Wurzel meiner Eltern, an die Wurzel meiner Herkunft, in die Öfen, in den Rauch?

Ich kann ihm nur banale Augenblicke referieren, wo mir der alte Antisemitismus entgegengeschlagen ist: Jesus, der zwar ein Jude war, aber; der Messias und die Juden; die Juden, immer wieder die Juden. Und immer wieder diese Gespaltenheit, diese Isoliertheit. Würde mein Gefühl unmittelbar herausbrechen, würde ich mich aus meiner Schutzhülle begeben müssen.

Ich solle mich endlich normalisieren.

Wenn ich aber umgeben bin von Leuten, bei denen ich gezwungen bin, auf der Hut zu sein? Nicht vor ihm, Stefan, schränke ich ein. Er brauche gar nicht beleidigt zu sein, er sei ja ein so rücksichtsvoller Philosemit, der sich noch vor einem möglichen Angriff zur Unterwerfung anbiete. Er sei verdächtig verständnisvoll. Immer diese bemühte Rücksicht, mit der er sich meine Zuneigung in jeder Situation erkaufen will. Und jetzt schon wieder dieses scheinheilige Sich-Näherkommen über den Vergangenheitsumweg. Diese Anbetung eines besonders ergiebigen Studienobjekts. Es müßte ihn doch selber ekeln.

Ich kann mich nur zumachen. Es macht mich zu. Mein Mund ist wie gelähmt. Aber ich könnte mir die Lippen fransig reden: Immer stößt Stefan nach, immer ist es ihm zuwenig. Er hätte lieber eine, die ihm alles genauer, detaillierter, sachlicher schildern würde, muß aber mit meinen herausgepreßten Fetzen vorliebnehmen. Dafür erwarte ich dann sofort Anerkennung, größtes Lob. Aber das ist bei ihm nicht drin. Deshalb stehe ich dann stumm herum, und es entsteht dieser Zorn über die unnötige Vergeudung, eine neue Auflage unseres Grundmißverständnisses.

Stefan wehrt sich mit dem Hinweis, ich würde nie einen Unterschied zwischen einer allgemeinen Diskussion und einem Gespräch über uns machen.

Aber ich bestimme doch die Grenzen des Sagbaren, empöre ich mich. Es überanstrengt mich schon lang, während er abwinkt: Es reicht nicht! Er fordert mich zu mehr auf, und es reicht nicht! Er verlangt, daß ich mich auf eine sachliche Ebene begebe, bezeichnet mich aber im selben Atemzug als ein emotionales Kuddelmuddel, das völlig unverständlich irgendwann zur Salzsäule erstarrt. Ich sollte mich eigentlich bedanken: Wäre nicht er, mit seiner unablässigen, lästigen Neugier (und wärst nicht du mit deiner unentrinnbaren Nähe!), ich wäre ständig so versteinert wie in den verzweifeltsten Momenten meines Lebens.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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