DB-79 (28) (Friedrichstraße)

Friedrichstraße. Am Intershop vorbei hinunter zum Übergang. Dort stellt Stefan Netz und Pakete auf eine Bank, um den Paß vorzubereiten. Der ist aber weder in der Brusttasche seiner Jacke noch woanders am Körper. Er erinnert sich, eine schwarze Tasche mitgehabt zu haben, findet sie aber nirgends, weder zwischen den Lebensmitteln noch zwischen den Zeitungen. Daß diese samt Paß und Sexualleben verlorengegangen sein soll, kann er nicht glauben.

Stefan hastet die Stufen zur Bahnhofshalle hinauf, legt dort den Inhalt des Einkaufsnetzes und der Pakete säuberlich nebeneinander, dreht und wendet alles hin und her, immer mehr Blut im Kopf, mit immer größerer verständnisloser Ungläubigkeit.

Schließlich rafft er sich auf und erklärt einem Volkspolizisten, was ihm zugestoßen ist. Der Mann verschwindet hinter einer Tür, erscheint gleich wieder mit einem mitfühlenden Gesicht: Er könne leider nichts für ihn tun; Stefan soll sich am besten an die Bahnaufsicht wenden.

Das einstöckige Häuschen am Bahnsteig scheint nicht besetzt zu sein. Stefan wandert die Bahnsteigkante entlang und versucht seine Handgriffe im Bahnhof Zoo zu rekonstruieren. Er kann sich jedoch bei bestem Willen nicht erinnern, ob er die logische Abfolge des Versteckvorgangs der Bücher irgendwo unterbrochen hat.

Als ein S-Bahn-Bediensteter einen soeben eingefahrenen Triebwagen verläßt, erklärt ihm Stefan seine Situation. Der zieht sofort seinen ostdeutschen Kollegen ins Einvernehmen und ersucht ihn, beim Bahnhof Zoo und beim Lenker des Zuges nachzufragen, ob die Tasche nicht inzwischen gefunden worden sei. Der Ost-Berliner verspricht, sich um Stefans Angelegenheit zu kümmern. Der West-Berliner weist auf Stefans Mitbringsel und warnt ihn davor, sie aus den Augen zu lassen. Er befinde sich ja noch auf West-Berliner Boden.

Voller Selbstvorwürfe zählt Stefan zur Ablenkung die Schritte, die er braucht, um von einer Bahnsteigkante zur andern zu wechseln, um den Abstand zwischen Schutzgitter des Abgangs und Eingangstür des Bahnaufsichtshäuschens in Fuß abzumessen, bis er sich auf ein Gespräch mit dem herabgestiegenen S-Bahner, der sich jetzt, wo er offiziell heraustritt, die rote Kappe aufsetzt und seine Dienstjacke über den grauen Pullover zieht, einlassen kann.

Eigentlich dürfte er das gar nicht, sagt dieser, sich mit einem Bürger des kapitalistischen Auslands so hinstellen und plaudern. Doch gleich danach beginnt er - ganz im Vertrauen - über die Westgeld-Inhaber und Intershop-Käufer zu schimpfen. Noch mehr scheint ihn aber zu stören, daß er keine westlichen Sportzeitungen lesen dürfe. Wo er sich doch nicht für Politik, sondern nur für Fußball interessiere. Er könne nicht verstehen, was denn an den Ergebnissen westlicher Fußballspiele sozialismusfeindlich und imperialistische Diversion sein solle. Nachdem er seine Kritik so konspirativ an den Mann gebracht hat, kann er sich auf Stefans Anliegen konzentrieren. Es gebe, meint er, genügend Leute, die ein Interesse haben könnten, einem Ausländer den Paß zu stehlen.

Plötzlich läutet das Telefon, er eilt hinauf, winkt Stefan durch die Scheiben zu und hoppelt dann grinsend herunter: Eine frohe Botschaft, zeitgemäß - die schwarze Tasche sei gefunden, liege am Zoo für ihn bereit. Stefan kann kein besonderes Hochgefühl ausmachen, nur ein Nachlassen des Selbstverantwortungsdrucks. Keine blitzende Freude, kein Gefühl, daß jetzt alles wieder gut wird. Warum auch? Und warum gleich alles?

Eigentlich hat er ein solches Ergebnis erwartet, stellt Stefan erstaunt fest, als er die S-Bahn verläßt und auf die Tür der Bahnaufsicht am Zoo zueilt. Drinnen bemerkt er eine Frau, die haltlos vor sich hinheult. Einer der Uniformierten legt eine schwarze Tasche auf den Tisch. Stefan erkennt sie als seine und nimmt sie an sich, als wäre sie nie verlorengegangen gewesen, als hätte er sich ihren Verlust nur in einem Augenblick der Absenz vorgestellt. Während er hinausgeht, schreit die Frau: Der hat die Tasche gekriegt, aber wo ist meine? Wer hat sie gestohlen?

Gleich vor der Tür öffnet Stefan den Zippverschluß: Es ist alles da - das Buch, die Brieftasche, der Taschenspiegel, der Kamm, die Ost-Berliner Fahrkarten; nur der Paß fehlt. Da hilft kein Kopfschütteln, kein Weitergehen, kein Stehenbleiben, kein wiederholtes Aufklappen, Herausnehmen - sein Paß bleibt verschwunden.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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