T-17 TATIANA

Wasserfalltäuschungen habe ich schon mehrmals erlebt. Sollte ich sie deshalb nicht einfach auch Ramirer und Tatiana zuschreiben?

Ramirer, denke ich, wäre genauso verwundert, wenn nicht begeistert gewesen, hätte sich der Boden unter seinen Füßen bewegt, und zwar stromaufwärts, und er hätte nichts dagegen tun können, außer sich immer wieder von neuem zu wundern, mit ihm Tatiana, als wären sie jetzt beide auf einer Insel gelandet, in der die üblichen physikalischen Gesetze nicht gelten. Natürlich bewegt sich der Boden, die Erde, aber so unmerklich, daß nichts davon zu spüren ist. Die Erde dreht sich, und alles, was sich auf ihr befindet, dreht sich mit, Sonne, Mond und Sterne drehen sich von selbst usw.

Ein unausweichlicher Zustand, jedenfalls, solange man sich mit beiden Füßen am Boden befindet, auch wenn man deshalb, bildet man sich ein, man müßte sich mitdrehen, bald den Kopf verliert und selbst hinstürzt, und Gras und Erde können ungeniert in den Mund eindringen, und zwischen den Zähnen und auf der Zunge ist der Geschmack dessen zu schmecken, was uns ernährt und am Leben erhält. Jetzt zubeißen, und wir schlucken es, mit knirschenden Zähnen.

Ramirer wollte Tatiana überraschen. Sie widersprach ausnahmsweise nicht, als er ihr sagte, er werde sie jetzt nicht gleich zum Studentenheim bringen, dazu sei der Abend zu schön. Sie kannte das Industriegebiet am Fluß nicht, auch nicht den Damm, den Schienenstrang daneben, der dreimal die Straße überquert und danach wieder zurückführt, so daß sich eine langgezogene Schlangenlinie ergibt, von der man aus die früher hier die noch in Betrieb befindlichen Fabriken mit Nachschub versorgen konnte. Ramirer hätte nicht sagen können, ob hier tatsächlich noch überall Züge fahren.

Um in der Nähe des Kraftwerks an den Fluß zu gelangen, mußte er mit dem Auto unter einer schmalen Brücke hindurch, diese oben überqueren und an einem Fischrestaurant vorbei, um dahinter das Auto zu parken.

Nur noch einige Stufen hinauf, und sie konnten im Westen die letzte Brücke und nördlich davon eine Ansammlung von Hochhäusern sehen, alle unter der 100-Meter-Grenze, eher eine strukturierte Wand als einzeln zum Himmel aufragende, ehrgeizige Bauwerke. Und im Osten, flußabwärts, in etwa einem Kilometer Entfernung das Kraftwerk und die damit verbundene Schleuse. Er schlug vor, in diese Richtung zu gehen.

(19. Jänner 2007)

Trackback URL:
https://earichter.twoday.net/stories/t-17-tatiana/modTrackback

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Free Text (1)

Dieses Weblog wird hier archiviert.

Archiv (ab 1967)

Lyrikbände:

Der zarte Leib

Friede den Männern

Das leere Kuvert

Eurotunnel

Obachter

Schreibzimmer

Romane:

Die Berliner Entscheidung

Originalverpackt oder mit Widmung über e.a.richter(ett)gmx(punktt)at erhältlich.

„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

Fliege. Roman eines Augenblicks

Aktuelle Beiträge

0126-1b A KIND OF DEPARTURE
the lady of the house speech-impaired since an incomprehensible...
e.a.richter - 2015-12-30 07:09
0126-1a AUCH EIN ABGANG
die gnädige frau sprachgestört wohnt sie seit einem...
e.a.richter - 2015-12-26 03:43
0107a - THE TEACHERS
the teachers leave the school the prettiest teacher...
e.a.richter - 2015-12-23 21:27
DT-001 FETISCH
(YVONNE) ihre weiße Bluse steif, ein Fetisch, der...
e.a.richter - 2015-12-21 12:12
DZL-18 DAS BETT
das Bett, das alles verraten wollte und nichts verriet:...
e.a.richter - 2015-10-07 04:22
DZL-17 PUPPI
was zu sehen ist, in einzelne Stücke zerlegen; alle...
e.a.richter - 2015-06-02 08:44
DZL-01 WIR GLAUBTEN AN...
wir glaubten an das Blut. Dieses Wir ist mit Vorsicht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:59
DZL-02 MEIN PATTEX
mein Zauberer hieß nicht Pattex, nicht Expatt. Er lebte...
e.a.richter - 2015-05-07 13:58
DZL-03 DER ZARTE LEIB
Zartleibigkeit wird vermißt, auch intensive Zartlebigkeit....
e.a.richter - 2015-05-07 13:56
DZL-04 - ZU MEINER ZEIT
zu meiner Zeit war gar keine Zeit. Die Zeit hatte sich...
e.a.richter - 2015-05-07 13:55
DZL-06 IN DIE HÖHE SINKEN
schwierig zu lesen: Er begriff seine Geschichte. Blatt...
e.a.richter - 2015-05-07 13:53
DZL-07 TISCHLERPLATTE
mein Vater, Tischler, hatte keine Tischlerplatte, er...
e.a.richter - 2015-05-07 13:52
DZL-08 GOLD, GLANZ, HEITERKEIT
sie sagt, ich bin älter als mein Vater, als er zu...
e.a.richter - 2015-05-07 13:51
DZL-09 WIR GLAUBTEN AN...
wir glaubten an das Blut. Dieses Wir ist mit Vorsicht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:51
DZL-10 BRAUTMASCHINE
ein Mann braucht nur eine Wand und eine Braut. Er braucht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:50
DZL-11 SCHWIMMERIN
wenn sich das Tor geöffnet hat, fährt allen in ihren...
e.a.richter - 2015-05-07 13:50
DZL-12 FRESSEN UND WUCHERN
Gedichte zu fressen ist nicht meine Sache. Ich lese...
e.a.richter - 2015-05-07 13:49
DZL-13 KONTROLLE VERLIEREN
Kontrolle verlieren, im Nebenraum, wo alles aufgetürmt...
e.a.richter - 2015-05-07 13:49
DZL-14 MUNDSCHUTZ FÜR...
es begann mit strahlenden Augen, auf einer Schnitzerei...
e.a.richter - 2015-05-07 13:48
DZL-15 JUNGE FRAUEN...
dem kleinen Mann macht die Situation einen Gefallen: zwei...
e.a.richter - 2015-05-07 13:48

Free Text (2)

Free Text (3)

Archiv

Juli 2013
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 1 
 3 
 4 
 6 
 7 
 9 
11
13
15
16
17
19
21
23
24
25
26
27
28
29
30
31
 
 
 
 
 

Suche

 

Status

Online seit 4840 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 2016-01-06 11:08

Credits


A Roma etc.
Das leere Kuvert
Der zarte Leib
Detonation und Idylle
Die Berliner Entscheidung
Erste Instanz
Eurotunnel
Fliege (Notizen)
Friede den Männern
Jetzt
Licht, Schatten
Namen
Obachter
Pessimismus & Erfahrung
Schreibzimmer
Stummfilmzeit
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren