Montag, 8. Juli 2013

T-16 TATIANA

Andererseits halte ich Ramirer für einigermaßen mit der griechischen Geschichte vertraut und auch willens, mit seinen Kenntnissen Tatiana zu imponieren. Aus diesem Grund könnte er sich auf Bias von Priene, einen der bei Platon erwähnten Sieben Weisen, berufen haben, der, als jemand von ihm wissen wollte, was besser sei, zu heiraten oder ledig zu bleiben, folgende Antwort gab: "Du kannst an eine Schöne geraten oder an eine Häßliche. Die Schöne mußt du mit anderen teilen; die Häßliche wird dir nur Unglück bringen. Beides ist nicht empfehlenswert. Also ist besser nicht heiraten!“

Sollte darauf Tatiana, sich der Bezüglichkeit zu ihrem Vorleben bewußt, gefragt haben: Kann man das nicht auch entgegengesetzt auffassen? – wie hätte Ramirer pariert?

-Ja, natürlich: Heirate ich eine Schöne, schwimme ich im Glück. Nehme ich mir eine Häßliche, muß ich sie mit niemandem teilen. Fazit: Besser heiraten, als es nicht zu tun!

Tatiana: Das ist also hier der Umkehrschluß? Dann habe ich einmal richtig, einmal falsch gehandelt.

Ramirer: Auch wenn du jetzt lachst, und zwar mit Recht, denn du hast beides ausprobiert, aber nicht im Sinne dieses Griechen, meine ich, daß die zweite Lösung kein echter Umkehrschluß ist. Denn Bias von Priene war ja von der Voraussetzung ausgegangen, man sollte deswegen nicht heiraten, weil das sowohl bei einer schönen als auch bei einer häßlichen Frau mit einem Nachteil verbunden ist, also notwendigerweise jeden Ehesüchtigen betreffen wird. Wer das umkehrt, weicht damit ja keinem vorhandenen Fehler aus, sondern behauptet nur das Nichtvorhandensein eines Fehlers, der für ihn gar nicht existiert.

Tatiana: Dann genügt es also, wenn man sagt: Egal, welche Frau ein Mann wählt, er muß immer etwas Unangenehmes in Kauf nehmen: entweder er teilt sie mit anderen oder sie bringt ihm kein Glück?

Natürlich könne man auch denken, hätte Ramirer jetzt anfügen können, daß die Unterscheidung zwischen einer Schönen und einer Häßlichen kein vernünftiges, gerechtfertigtes Unterscheidungsmerkmal sei. Auch wenn Häßlichkeit und Schönheit besonders ins Auge stechende Gestaltsmerkmale seien, gebe es doch auch eine dritte Möglichkeit, an die Bias von Priene offenbar nicht gedacht hatte, nämlich die 'mittlere Schönheit' - eine solche nämlich, die weder augenblicklich süchtig macht noch heftige Abneigung hervorruft. Wobei diese „Mitte“ ein breites Spektrum der Mischung von individuellen Merkmalen umfasse, nicht Endpunkte auf einer apodiktischen Beurteilungsskala.

Vielleicht dachte Ramirer auch an das Wort „ehetauglich“, ohne es auszusprechen. Denn Tatiana würde er, ginge er von ihrem Erscheinungsbild und den Auswirkungen ihres Verhaltens aus, nicht zu dieser Kategorie von Frauen zählen wollen. Doch glücklicherweise redete er von etwas ganz anderem.

(18. Jänner 2007)

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