Freitag, 16. September 2011

0076 -ERNSTBRUNN

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anlaufzeit anlaufweg. die straße ein stimulans, die fahrzeit, das fahren selbst, das, was während des fahrens zu sehen ist, bestimmte erschreckende farben, rapsgelb zum beispiel oder frisches ockerbraun, ortsnamen, was ortsnamen alles provozieren. der anlaufweg endet irgendwo vor ernstbrunn. steinbruch, kalkfabrik, das rätselhafte an beiden, die erinnerung an ein gedicht. die anlaufzeit vereinigt sich mit der zeit der ernstbrunner häuser, ernstbrunner plätze, ernstbrunner kirchen, mit der zeit der leute auf den ernstbrunner straßen. die zeit war plötzlich nicht mehr meine zeit, sagte der student, die unruhe hatte eine noch unbestimmte richtung, immerhin gerichtet. der kopf ist endlich durch die wand, sagte der student, allerdings durch eine aus luft

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die ziegelmauer rechts ist unregelmäßig hoch, bucklig und löchrig; zeigt schönes rot. vögel, licht und schatten auf den wegen, wind, windrascheln/rauschen. noch immer das gefühl des gehetztseins, sagte der student, atemlosigkeit, herzziehen. die frau, auf die man zugeht, weil vorher auch jemand auf sie zugegangen ist und diejenigen, die auf sie zugegangen sind, im weggehen begriffen sind. rechts die rote ziegelmauer, und den dahinter vermuteten garten durch versperrte, verhängte, angelehnte türen, tore gesehen, in angenehmster verwildertheit. angesprochen spricht sie freundlich, aufblickend aus ihrer weißen haarsträhne über den augen, allerdings privat, man hat es ihr in den mund gelegt. sie können hier ruhig herumspazieren. es gefällt mir sehr, sagte der student, aber er machte kehrt. deutsche autonummer, die frau hatte außer ihrer blechschere einen akzent. sanft fächelnde blätter, idyllisch. eine frage: warum gerade diese richtung, warum gerade diese gelegenheit so offenkundig beiseite geschoben, mit fachkundiger hand. vom schwarzgelben anstrich des querbalkens nur noch andeutungen. der sperrbalken selbst allerdings robust. vorübergehende abschaltung elektrischer anlagen, vorübergehend wieder lichtgezwinsel, das heißt: sonnenblinklicht. annäherung auf umwegen, rückkehr geradewegs. eine solche sattheit der natur, sagte der student, die mich immer erschreckt hat. zugleich auch ihre tödliche langeweile, so tödlich regelmäßig wiederbelebt. blitzschatten eines vogels. rieseln eines blütenblatts: blütenblattmeer. das ganze umschreiben. einen ort suchen, der im rhyhtmus des herzschlags aufzeichnungen erlaubt. traumhaftes windrauschen. künstliche/gekünstelte träume einer frau. astkrächzen. motorgeheul

3

durch den dichten wald. zweimal warnung vor wild. drei autos. stehengeblieben um 11 auf einer anhöhe mit freiem ausblick. leute, kinder in einem wüsten felsbrockengebiet rechts. kalkklippen wie schon im lainzer tiergarten, eine malmkalkscholle auf einer länge von 10 kilometern, 5 kilometer breit über dunkelgrauem mergel als quellhorizont. 4, 5 meter hohe felsbrocken, teils moosüberwuchert, windschatten bildend. blick auf die flachen grünen hügel darunter. drüben anhaltende autos, mit herausspringende kindern, erwachsenen, sichtlich voller erwartung auf das mittagspicknick im grünen. und nirgendwo der erwartete steinbruch


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im steinbruch dann sprengzeiten von 4 bis 20 uhr durchlaufend. sprengsignale: einmaliges langes signal: deckung aufsuchen; zweimaliges kurzes signal: sprengung; dreimaliges kurzes signal: sprengung beendet. privatbesitz, durchgang verboten

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schon außerhalb ernstbrunns, hinter der kalkfabrik, auf dem weg nach mistelbach. dreht man sich zum abschied im kreis, sagte der student, so ist die nachzeichnung der silhouette mit dem zeigefinger eine ziemlich gleichmäßige auf- und abbewegung: hügel mit steinbruch – hügel – hügel – kleiner hügel – kleiner hügel – etwas größerer hügel – hügel mit einer turmspitze – kleiner hügel – naher kleiner hügel – flacher kleiner hügel - flacher kleiner hügel – flacher kleiner hügel - flacher kleiner hügel - flacher kleiner hügel – ernstbrunn

(montag, 18.5.1970)

(Blick ins Nebenzimmer: Nullo nullo 35)

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