Mittwoch, 3. Oktober 2012

EU-22 SAMSTAGNACHMITTAG (RANVILLE ROAD)

von der Themse her Wind, aus beiden Richtungen.
Da sitzt du mir schräg gegenüber,
in einer Nische der Riverside Studios,
sprichst mit meiner Zunge, erstaunlichem Auftrieb.

Es ist dein Bild auf dem Bildschirm
in meiner Hand, das dich antreibt.
Du stehst an der Theke zwischen zwei Mädchen,
gläsern und zart, die ihre Arme heben

zum Samstagsnachmittagstanz,
der die Jahre überdauert hat.
Eine von Tausenden bist du, Beine
wie Stämmchen nebeneinander,

und ein Insekt fliegt unermüdlich stechend
von Haut zu Haut – Blutströpfchen sondern
sich ab, langsam in eine Rinne rieselnd,
Sammelbecken, das in ein Abflußrohr mündet.

Es ist das Samstagnachmittagsritual
der Rotes-Kreuz-Wespen: ihre Opfer
und Helferinnen sind die Mädchen.
Auch du tust deine Samstagnachmittags-

Gute-Tat, die allen anderen zugutekommt,
nicht nur dir. Dafür willst du aufsteigen,
schlagartig, in den Himmel, freudenreich
bis in die Höhe der Satellitenumlaufbahnen,

lautloser Transport auf dieser fügsamen Lederbank.
Lohn für Mitleid, Güte, pulsierenden Schmerz:
von dort könntest du herabblicken,
hättest aber auch Zugang zu einem Wurmloch,

völlig anderen Welten-Raum. Du zweifelst
im Augenblick der Idee. Das hält dich fest,
hier auf der Erde, zwingt dich
unter die Oberfläche auf deinem Gestühl,

Ersatz für einen ganzen U-Bahnzug,
der nun mit dir allein, nur deinen Impulsen
gehorchend, durch alle Tunnels treibt, weich,
isoliert und gefahrlos durch menschenleere Stationen,

ohne zu halten, solange du willst –
dein Urwald ohne Pflanzen und Tiere,
deine unergründliche, selbsttätige Schlangenlinie,
die dein Bewußtsein dir jede Millisekunde vorschreibt:

bis zu der Stelle, wo das Feuer einst brannte
und die Mädchen tanzten ihren Samstagnachmittagstanz -
da wird plötzlich dein Halt sein,
Auslaß ins allgegenwärtige Nichtsein

(Dienstag, 10.07.2001, 22.30 Uhr, London)

(Erschienen in Eurotunnel, Literaturedition Niederösterreich, 2005)

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