Sonntag, 28. Oktober 2012

DB-010 4 (Elektrisch beleuchtete Weihnachtsbäume)

4

Elektrisch beleuchtete Weihnachtsbäume grüßen die Reisenden. Im Wettbewerb liegt unsere Kraft, die täglich neue Werte schafft. Weißer Dampf entweicht aus vielen Öffnungen. Ein Friedhof, dicht besetzt mit dunklen Steinen, zwischen den Gräbern Schneeflecken. Kurze, grüne Saat mit Reif darauf. Wochenendhäuschen, abbröckelnde Villen, Gärtnereien mit Plastikdächern. Eine Nebenstraße, auf der kein einziges Auto zu sehen ist. Ein Mann, der einen Leiterwagen zieht; dahinter sehr niedrige, breitbeinig dastehende Überlandleitungen. Aus dem Nebel bricht plötzlich Sonne, fleckt die Felder mit schnellen Wolkenschatten und zieht sich - weiter nordwärts - wieder zurück. In einem Föhrenwald ein einsamer Spaziergänger. Braungelbes Feld. Graublauer Horizont. Blaßgrüne Felder vor dunkelgrünen Waldrändern. Dunkle Föhrenstämme vor hellgrünem Feld. Ein Militärkonvoi, der sich langsam aus einem Wald herausbewegt, auf einen Schranken zu. Weitere Fahrzeuge - mindestens fünfzehn - auf einer Straße, die ein Stück parallel zu den Schienen verläuft.

Blackout, Blackout. Stefan, Reisender auf dem Weg zu einer als Folge des Krieges, den er nicht mehr erlebt hat, geteilten Stadt, klammert sich in der künstlichen Finsternis, die flimmert und rauscht, an Eindrücke, nachdem sie schon längst vorbeigeflitzt sind. Er liefert sich aus. Er hält sich trotzdem im Zaum. Er gibt einem immer wieder aufgetauchten Impuls nach: Der Vergangenheit will er an Ort und Stelle ins Auge schauen, in Umkehrung der offensichtlichen Neigungen Lenas. Er will sie betrachten, einkreisen, anfassen mit seiner schnell sich entzündenden Gier nach Neuem. Ihre Vergangenheit, die sie eifersüchtig hütet, umgrenzt seine Gegenwart. Sie soll sein Besitz werden, wenigstens sein Mitbesitz. Über Lenas Menschen will er sich Zugang zu ihrer verzweifelten Kraft verschaffen; ihr verzweifeltes Schweigen aufbrechen.

Er sieht eine sehr junge Lena und viele männliche Widersacher, die sich auf fernen Kontinenten, in ihren Luxusresidenzen über sie beugen, sie wachküssen, sie in Samt und Seide kleiden, ihr Muße, Abwechslung, Abenteuer, Spiel mit dem Feuer, Macht und Triumph ermöglichen. Er sieht sie mit Makeln behaftet, für die sie keine Verantwortung trägt. Ihren Verderbern will er ins Gesicht schauen und sie zur Rede stellen. Oder stellvertretend sie selbst, in der richtigen Stunde, zur Rechenschaft zwingen. Dann muß sie vor ihm ihre Erinnerung ausbreiten, ihn teilhaben lassen an jeder Liebe, die jemals in ihr entstanden ist, an jeder leidenschaftlichen Zuwendung, an jeder Verfinsterung, an jedem Verstoßungsakt, zu dem sie sich selbst verdammt hat.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

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