Donnerstag, 1. November 2012

DB-014 (5) (Jetzt sehe ich mich abgestumpft)

Jetzt sehe ich mich abgestumpft, was meine Erwartungen anlangt. Du sagst, ich habe gelernt, meine Bedürfnisse zu zerstückeln. Du sagst, ich habe mich an Trennungen gewöhnt. Oskars Nähe wirft mich nicht aus dem Bett, macht mich weder heiß noch neugierig. Du sagst, das ist meine lebensrettende Zensur.

Trotzdem fühle ich mich ausgesetzt, verbiete mir weitere Vergangenheitsbilder und freue mich über die Rückkehr Stefans, der - animiert von seiner Nachtschwärmerei - in den Raum platzt, als hätte er etwas getrunken, und sich auf meine Beine plumpsen läßt. Um nun doch nicht in Gefahr zu geraten, mein Herzweh nach außen zu lassen, bitte ich ihn, den Fernseher anzudrehen. Er gehorcht, obwohl er sich für gewöhnlich über meine Fernsehfluchten zuhaus das Maul zerreißt.

ARD, Tagesschau. Der ungewohnte Luxus von fünf Programmen, sagt er süffisant und bleibt dann, um einem ihn langweilenden Hollywood-Schinken vorzubeugen, bei einem französischen Film, bezeichnenderweise mit dem Titel Gefährliches Spiel von Ehrgeiz und Liebe hängen, mit Claudia Cardinale und Michel Piccoli.

Stefan wühlt sich in meine Nähe, und ich nütze die Gelegenheit, um meine noch immer eiskalten Füße zwischen seine Waden zu stecken, worauf er zwar schaudernd zurückzuckt, dann aber doch zu meinen Zehen greift und sie zwischen Zeigefinger und Daumen massiert.

Noch ist nichts klar im Film. Während einer sich beklagt, daß ihnen weder die Macht noch das Geld noch die Arbeiterklasse heilig sei, stellt der andere trocken fest, daß die Leute (trotz des Komforts, den man ihnen bietet) noch immer kommunistisch wählen. Der eine, Jacques, ist jung, der andere, Michel, alt. Der eine, anscheinend der Widersacher des andern, steht plötzlich auf dem Plateau eines Hochhausrohbaus, zitternd vor Angst, als er einen Blick hinunter wagt. Hinter ihm, mit kaum verhohlenem Triumph, Michel, der ihn zwingt, noch näher an die Kante zu treten und die Tiefe des Abgrunds zu ermessen.

Ist das eine Vorausdeutung auf die Zerschmetterung des Jungen? Oder ist es eine Irreführung der Erwartungen der Zuseher? Kehrt sich die Geschichte um? Sind überhaupt Überraschungen vorgesehen? Handelt es sich um ein Dreieck, das sich aus einer äußerst kurzen Geraden jäh aufbauscht? Ich drehe mich so, daß Stefan hinter mir liegt und ich meine Sohlen an seine Schienbeine drücken kann.

Es geht um die Klischees und ihre Zertrümmerung! Und nach kurzem Schweigen setzt Stefan fort: Die da oben sind mir zu reich, die können sich die tollsten Leidenschaften leisten. Schließlich, weil ich darauf nicht einsteige, fügt er noch hinzu: Das sei die wahre Koexistenz der Systeme, daß wir jetzt in Berlin-Ost in einer Wohnung, wie wir sie nie besitzen würden, vor einem Ost-Gerät lägen , um uns einen West-Film anzuschauen, ungeschützt-sehnsüchtig.

Als dann Michel mit einem Gewehr im Garten herumläuft, vor ihm Jacques, der vermeintliche oder wirkliche Liebhaber der Cardinale, die sich hier als seine Frau geriert, ist völlig klar geworden, daß der mit ihr eigentlich gar nicht schlafen will.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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