Mittwoch, 24. Oktober 2012

DB-006 (2) (Eine Schar junger Leute)

Eine Schar junger Leute strömt lärmend zur Gepäckaufbewahrung. Aus ihnen löst sich ein großes, dünnes Mädchen mit fleckigen Wangen und bleibt dicht hinter Stefan stehen, der sich inzwischen beim Kiosk für Reiseproviant angestellt hat. Der Dickbebrillte in dem auffällig schmutzigen Ballonmantel, der vorher unschlüssig vor dem geschlossenen Zeitungsstand gelauert hat, hängt sich sofort an die Hochaufgeschossene, die vor seiner unvermittelten Annäherung nicht zurückweicht. Er redet, als wäre er der Bahnhofsvorsteher, über die Ankunfts- und Abfahrtszeiten der nächsten Züge und kommt gleich auch auf die Ursachen des Unfalls zu sprechen, das sich vor einigen Monaten in diesem Bahnhof ereignet haben soll.

Das Mädchen tritt von einem Fuß auf den anderen und öffnet ihren viel zu weiten Anorak. Dabei wird eine Kette mit dem Schwarz-Weiß-Foto des Bhagwan kurz sichtbar, zwischen zwei ovale Plastikscheiben gepreßt. Der Auskunftgeber wirft einen schnellen Blick darauf und folgt ihr in einigem Abstand, als sie sich wieder ihrer Gruppe anschließt. Auf einmal besinnt er sich eines Besseren, haut sich mit der Hand gegen die Stirn und dreht sich in Richtung Stefan: Er wolle doch nach St. Pölten; was tue er da am Südbahnhof? Stefan, der fürchtet, er sei nun als Gesprächspartner zur Erörterung dieser Frage auserkoren, schaut nach unten. Die Schuhe gtreten auf der Stelle, als wäre der Mann noch unschlüssig.

Stefan wendet sich abrupt den drei Reisenden vor ihm zu, die endlich ihren Proviant erhalten haben. Als er zwei Liter Milch verlangt und die blasse Rothaarige hinter der Fensteröffnung: Haltbarmilch? fragt, berührt ihn jemand an der Schulter. Stefan riecht Weindunst und zögert, die verneinende Antwort an die Verkäuferin dazwischenschiebend, die sich ankündigende Blitzerkenntnis so lang hinaus, bis ihn der hinter ihm nochmals anhaucht und seinen Kopf unwillkürlich zur Seite schnellen läßt. Er erfaßt das aufgedunsene, unrasierte Gesicht eines vielleicht Fünfzigjährigen, das ihm: Kollege, Kollege! entgegenlallt.

Sein Zurückweichen vor dessen Fratze macht Stefan sofort wieder rückgängig, indem er sich zu ihm hinabbeugt, ein Ohr hinhält, in das der Besoffene, die Augen zukneifend, seinen einzigen Wunsch preßt, den nach ein paar Schilling. Was Stefan vom Einkauf retour bekommen hat, stopft er in die Hand des Mannes, der schon wegtorkeln wollte, nun aber zurückzuckt und einen Schwall von Dankesbezeigungen auf ihn losläßt.

Niedergeschlagen setzt Stefan seinen Fuß auf die Rolltreppe. Josef muß ihm diesen Trunkenbold auf den Hals gehetzt haben, um ihm seine eigene Hilflosigkeit vor Augen zu führen, seine Ausgesetztheit und Ausweglosigkeit. Ein Nichttrinker wird einen Trinker niemals verstehen: Das ist Josefs Botschaft von weit weg aus der Finsternis, vielleicht noch auf der Autobahn zwischen Linz und Wien, aus dem Zentrum des Schneesturms.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

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