Sonntag, 21. Oktober 2012

DB-003 (1) (Du siehst)

Du siehst: Auch jetzt noch überträgt sich seine verletzende Ungeduld, die einen Ausbruch vorbereitet, auf alle Gegenstände im Raum, verunsichert mich und erinnert mich an meine Schuld. Natürlich könnte ich ihm mit meinem Ausbruch zuvorkommen. Doch wenn ich auf dein Gesicht in mir blicke, lächelt es mich wie eine Sphinx an, zeigt mir aber keinen Weg und überläßt mir die Wahl der Mittel. Zugleich erscheint die so oft erinnerte Badezimmerszene, wo ich heulend hinter der von innen verriegelten Tür sitze, nachdem ich in einem Anfall von Raserei fast alle Gegenstände in meinem Zimmer kaputtgeschlagen habe, nur um ihm wieder einmal zu zeigen: So darf er mit mir nicht umgehen, so darf er meine Gefühle nicht mißachten, so darf er mich nicht an sich binden wollen!

Plötzlich steht er bei der Tür, legt Hand an den Koffer, der ihn gleich umreißen wird, die Stiegen hinunter. Als er dann draußen ist, taucht auch Stefan wieder auf, zieht sich die Hose hinauf und versucht, mich besänftigend zu berühren, obwohl er wissen müßte, daß es jetzt nur einen Nachfolgezwang geben kann, den auch mein einfaches Wunschbild, das mich sofort in den Bahnhof versetzt (nur als Auge, Außenstelle der Schaulust, ausnahmsweise angstfrei), nicht mildern kann.

Im Auto bleibt mir nur ein hilfloses Festklammern an den Arm Stefans, der vergeblich nach dem Gurtschloß tappt, um seinen Körper zu fixieren und sich schließlich starren Blicks auf die unvorhersehbaren Brems- und Beschleunigungsmanöver dieses unter dem wie immer viel zu dünnen Mantel hervorstechenden Fußes links vor ihm konzentriert. Draußen die regelwidrig kreuz und quer fahrenden Idioten, die im Straßenverkehr eigentlich nichts zu suchen hätten; herinnen dieser vermummte Mann, der, unablässig auf die Uhr blickend, mit seinem bitzligen Strampeln womöglich ein Blutbad provoziert.

Als die Koffer dann endlich vorm Eingang des Südbahnhofs abgestellt sind und mein Vater ohne Widerstand auf seine weitere Anwesenheit bis zur Abfahrt unseres Zuges verzichtet hat, glaubt Stefan noch immer an eine Koinzidenz der Zufälle, die Josef erlauben wird, ihn noch im letzten Moment einzuholen.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

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