Dienstag, 30. Oktober 2012

DB-012 (4) (Diese penible Demonstration)

Diese penible Demonstration von Vorsorge läßt Stefan plötzlich erschlaffen. Lena soll die Botschaft dieses Mannes, der sie wie ein gewalttätiger Schutzengel vorm Untergang in den Gefahren des DDR-Alltags bewahren will, zu ihrer Belustigung deuten. Er läßt sich im Schlafzimmer aufs Bett fallen. Eine Art Trauer über das Wegsein vom Gewohnten und das Noch-Nicht-Da-Sein im Ungewohnten überfällt ihn. Den Sinn dessen, was ihm Lena nun vorliest, erfaßt er mit einer gewissen Verzögerung. Vom Wortklang hervorgerufene Assoziationen schieben sich dazwischen.

Zahnputzbecher - was ist das? Wäscheschleuder - wer schleudert wen wohin? Was ist das für eine unbekannte extraterrestrische Sprache? Schleuderbecher, Schleubedecher, er versteht nicht, er brüllt den plötzlichen Sinnschwund hinaus.

Aber Lena bleibt ungerührt. Sie findet Stefans Unernst kindisch und unangebracht. Um wieder zur vernünftigen Aufmerksamkeit zurückzukehren, sucht er nach einer passenden Frage und findet sie, durch einen Blick auf den offenen Kasten: Der Wäschemann, wann kommt denn der Wäschemann?

Damit ist Lena überrumpelt. Sie muß wieder Götz zitieren, der beweist, daß er an alles gedacht hat: Der Wäschemann? Montags früh um sieben. Ihm müsse man den Wäschesack samt dem obendrauf liegenden Zettel überreichen und ihn kurz darüber aufklären, daß die Wohnungsbesitzer nicht ermordet, sondern nur bis zu Silvester an die Ostsee verreist seien.

Dann fordert Lena Stefan auf, sich doch noch - er soll sich nicht zieren, sie weiß ja, wie ihm zumute ist - einige Eindrücke vom nächtlichen Berlin zu geben. Daher wirft er sich in seinen Mantel, schnuppert hinaus in die Düsternis der Berliner Braunkohlen- und Gaslichtluft und tastet sich zwischen den S-Bahn-Geleisen und meist einstöckigen, villenartigen Häusern, schwarzen Blöcken mit einigen hellen Vierecken, in denen Christbäume aufblitzen, über einen holprigen, teilweise mit Steinplatten bedeckten Weg von einer Straßenlaterne zur andern.

Als Stefan einige Schatten redend und lachend sich nähern hört, wechselt er sofort über die unebene Pflasterstraße zur anderen Seite hinüber und verfolgt dort den ausgetretenen Pfad entlang der Lagerschuppen weiter bis zu der vier Fahrspuren breiten Hermann-Duncker-Straße, deren Namensgeber inmitten eines kleinen, kahlen Parks als schwarzes, lebensgroßes Standbild ohne Sockel in vorwärtsschreitender Pose vor ihm steht.

Stefan überquert die Straße, indem er neben der Litfaßsäule vor der S-Bahn-Unterführung unter dem Sperrgeländer durchschlüpft. Drüben, neben dem Filmtheater »Vorwärts«, lungern vorm Café gleichen Namens Jugendliche, Pärchen, sichtlich voller Ungeduld über die Verzögerung des Einlasses.

Der Fahrkartenschalter des S-Bahnhofs ist nicht besetzt. Beim Automaten löst Stefan einen Fahrschein der Stufe 2. Er ist aus dünnem Papier und verklemmt sich, wie ihn Stefan in den Schlitz des Entwerters schieben will.

Als Stefan am Bahnsteig ankommt, fährt gerade eine S-Bahn ab. Er beschließt, in Bewegung zu bleiben, dem kalten Luftzug die Stirn zu bieten, indem er die geschlossenen Zeitungskioske mehrmals umkreist. Im Windschatten versucht er sich klarzuwerden, ob er jetzt überhaupt noch ins Zentrum fahren soll.

Aus dem Zug in Richtung Königswusterhausen steigen nur wenige Leute, die ihn nicht beachten. Stefan reibt sich die Hände, was eine kurze Wärme erzeugt, zugleich den Impuls, sich in die Vergangenheit zurückzuprojizieren oder nach vorn in die Zukunft auszuschwärmen. Er entscheidet sich fürs erste: Er beharrt auf einem erkennbaren Anfang dieser Lebenslinie, die er jetzt verfolgt.

Der erzwungene Anfang als Motiv für die folgenden Handlungen. Die folgenden Handlungen unter der Hut des Anfangs. Alle Abschweifungen lassen sich als Irrwege denunzieren. Ab einem gewissen Punkt leuchtet ein guter Stern. Das Licht ist gering, aber es reicht aus, um die weiteren Stationen zu erkennen. Diese dienen dazu, die Ermüdungserscheinungen zu relativieren.

Jetzt ist er endgültig bei Lena angelangt, einem Anfang, dessen Ende noch nicht abzusehen ist. Der Anfang Lena steht stabil vor dem dahinterliegenden Leben. Hinter Lena zu blicken wäre mühsam und unsinnig. Im Moment genügt ihm das Wohlgefühl, das dieser Erkenntnis entspringt. Es läßt ihn schlagartig an eine Rückkehr denken.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

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