Mittwoch, 31. Oktober 2012

DB-013 5 (Ich räume die Koffer aus)

5

Ich räume die Koffer aus, versuche, die mitgebrachten Sachen möglichst unauffällig im Kasten neben dem Fenster zu verstauen, bemühe mich, sie in die Ordnung der Gastgeber einzupassen, eine Anstrengung, die etwas ganz anderes überdecken soll: Ich will den Sog nicht spüren, den diese plötzliche Nähe zu Oskar auslöst; diese Unruhe, für die es eigentlich keinen Anlaß geben sollte.

Weil mich friert, schlüpfe ich in einen Pullover und verkrieche mich im Bett. Wenn ich mich auf die linke Seite lege, irritiert mich mein Herzschlag. Ich umfasse meine Brust, taste (automatisch) nach einem unentdeckten Knoten, fühle meine starre Warze, die Noppen und Haare des Hofs, presse die Füße unwillkürlich zusammen, spanne ein paarmal die Muskeln zwischen den Beinen, verurteile mich aber sogleich zur Unterlassung weiterer Reizmanöver: Die aufsteigende Wärme suggeriert Erinnerungsfetzen, die ich jetzt nicht benennen will. Aber Oskar bleibt, Oskar von früher scheint durch und bleibt.

Als ich vierzehn war, schon seit drei Jahren menstruierend, voller Schulhaß, voll brennender Vaterliebe, noch immer, da ist Oskar, mein Onkel, zum ersten Mal aufgetaucht. Ich war perplex, hingerissen - ein Mann, der aussieht wie mein Vater und doch ein ganz anderer ist. Er ist zu einem Mittagessen zu uns gekommen, samt Frau, und wie er da saß, so freundlich, so lieb und mild, konnte ich mich an ihm gar nicht sattsehen, sattfühlen.

Der Gegensatz zu meinem Vater ist mir so ins Auge gesprungen, ins Herz, wo ja dieser sich breitmachte mit seiner gewalttätigen Liebe, seinen schneidenden Befehlen, die er immer mühelos in einen ursächlichen Zusammenhang mit seinen Ängsten um mich bringen konnte. Das mußte von mir aber schon damals immer deutlicher als Lebensverhinderung empfunden werden und hat mich ständig in einen grausamen Wirbel widersprüchlicher Empfindungen gestürzt: Da hatte ich Angst, er würde sich von mir abwenden, mich verächtlich meinen Schul- und Lebensleiden überlassen, mir jedwede Hilfe verweigern; zugleich litt ich auf das Entsetzlichste unter seiner Herrschsucht, seinem selbstherrlichen Zynismus, seinen besserwisserischen Monologen und wußte ihnen nichts anderes entgegenzuhalten als meine Wutausbrüche, meine Selbstverletzungen.

Dagegen jetzt diese lächelnden, alles versprechenden Augen seines Bruders. Ihn konnte ich ohne Angst lieben, und in diese Liebe steigerte ich mich in der kurzen Woche, die er blieb, so hinein, daß ich gar nicht an seinen Abschied zu denken wagte. Und als er schließlich doch dastand und die Arme ausbreitete, rannte ich hinaus, hinüber in mein Zimmer, und versteckte mich in meinem Kasten hinter den Kleidern.

Wie hätte ich Zeugin seines Abwendens sein können, wie hätte ich das Geräusch der zufallenden Tür ertragen können? Dem zog ich dieses tränenlose, bittere Zuwarten in der Dunkelheit, eingehüllt von Stoffen, die nach mir rochen, dieses stumme Verharren im Schmerz vor. Wenn ich schon den mir unverständlichen Entschluß zur Abreise nicht verhindern konnte, so wollte ich doch in einer verzweifelt-trotzigen Aufwallung demonstrieren, welchen Verlust ich erlitten hatte.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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