Mittwoch, 5. Dezember 2012

DB-039 (16) (Ludwig grinst Julia an)

Ludwig grinst Julia an, als würde jetzt die Fortsetzung einer längeren innerfamiliären Diskussion folgen müssen, doch diese bringt das Gespräch sofort auf die geplante Abendunterhaltung, und Stefan bleibt keine Wahl: Majakowskis Schwitzbad ist bereits beschlossene Sache.

Schätzt hoch die Kunst, welche füllt die Kassen - Ludwig zitiert -, doch die vom Sturm des Oktobers glüht heiß, die Kunst, die glänzt als Waffe der Klassen, überläßt sie den Feinden um keinen Preis. Das sei eine der Losungen im Zuschauerraum des Meyerhold-Theaters gewesen, fügt er an.

Er ist ein Paradearbeiter, lobt ihn Julia. Er ist gebildet, er kann dir auch die deutschen Klassiker hersagen. Und Hölderlin.

Ludwig hat von Uwe abgelassen, der mit viel Speichelfluß sein Käsebrot mampft. Er habe die Literatur nicht nur in sich hineingefressen, sondern auch verdaut, wozu ihn ja schon seine Übersetzerkurse zwängen. Wie die Arbeit, seine Arbeitskollegen, die Probleme am Arbeitsplatz, so bestimme auch die Literatur sein Leben. Er könne daher Julia ohne weiteres in die Phosphoreszierende Frau verwandeln, sie mit deren Geist erfüllen, und Stefan, wenn er nichts dagegen habe, in Triumphanschikow, Chef der Hauptverwaltung für Koordinierung und Kompromißwirtschaft.

Bevor sich aber Stefan mit der ihm völlig unbekannten Rolle vertraut machen kann, gilt es aufzubrechen, um noch Restkarten an der Abendkasse zu ergattern. Da es für die S-Bahn inzwischen zu spät geworden ist, versucht Ludwig telefonisch ein Taxi zu organisieren, aber an keinem der Stände in der näheren Umgebung hebt jemand ab.

Stefan ist mit Julia, die sich nicht mehr umziehen wollte, nur ihren Zopf geöffnet hat, bis zur Station Adlershof gefahren. Ihre Haare hat sie nach links geschoben und dort in Nackenhöhe zusammengeklemmt.

Stefan verläßt einige Schritte hinter ihr den Bahnhof. Sie dreht sich mit ratlosem Gesicht zu ihm um und wartet, bis er sie eingeholt hat. Sie habe keine Ahnung, warum heute keine Taxis mehr hier seien. Sie blickt auf ihre Armbanduhr und überlegt, ob es nicht doch noch möglich wäre, mit der nächsten S-Bahn rechtzeitig einzutreffen.

Da betätigt jemand hinter den beiden die Lichthupe, und ein blonder Mittzwanziger mit einem Menjoubärtchen und Brillantine-gebändigten Haaren steht plötzlich neben Julia und bittet sie, ihm schnell zu flüstern, wohin die Fahrt denn gehen solle: ins Blaue, ins Grüne oder ins rosarote Nichts?

Na siehst du, triumphiert Julia, es klappt ja doch noch. Es braucht eine Weile, bis Stefan begriffen hat, nun schon neben Julia im Fond des schneidig gelenkten Trabants, daß er sich in einem - verbotenen - privaten Taxi befindet, dessen Fahrer sich allabendlich sein Zubrot verdient.

Um die Fahrgäste von Fragen zur Person abzuhalten, flunkert der junge Mann lautstark, begleitet von entsprechend energischen Gesten, vor sich hin. Er besitze einen gefälschten Paß, den er für Fuhren nach West-Berlin einsetze, frei nach dem Motto: Strick, Gas oder Paß.

Und gleich ein Rat: Sollten Sie einmal an der Grenze gefragt werden: Haben Sie Rauschgift oder Waffen?, stellen Sie sich genauso dumm wie mein Freund Hans-Dieter aus dem Goldenen Westen und fragen Sie einfach zurück: Muß man das neuerdings haben, um bei euch überhaupt reingelassen zu werden? Und - er dreht den beiden hinter ihm lachend das Profil zu, meckert schon, bevor er die zweite Pointe losgeworden ist - er ist rübergekommen; aber erst, nachdem er genug Ordnungsgeld auf den Tisch geblättert hatte, heiße West-Mark, wegen Verarschung der Volkspolizei.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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