Sonntag, 9. Dezember 2012

DB-043 18 (Eingegraben in der Finsternis des Bettes)

18

Eingegraben in der Finsternis des Bettes neben der unruhig schlafenden Lena, fällt es Stefan schwer, sich seine Verliebtheit auszutreiben mit vernünftigen Sätzen. Es ist, als leuchte ihm jemand mit einer winzigen Taschenlampe ins Auge, sodaß er gezwungen ist, immer dieselben Gedanken, Ängste und Wünsche zu haben.

Zuerst die so oft überschlafene Zärtlichkeitslust, das so oft im Kopf vorweggenommene Wühlen in den bekannten Körperhöhlen. Und jetzt dieses Schwanken zwischen alltäglicher Hoffnung und singulärer Hoffnungslosigkeit, zwischen Sinnlichkeit in kleinen Schritten und der amoralischen Apotheose einer unsinnigen Leidenschaft.

Stefan zieht seine kalten Füße an den Körper: Schwitzbad. Er setzt Julia und sich wieder ins Schwitzbad, betrachtet es als eine Art Vorausdeutung des Kommenden. Dabei kann es aber nur um die Vergegenwärtigung des Vergangenen gehen.

Seine alte Krankheit: Kaum hat er sich von den Menschen entfernt, beginnt er wie wild an ihnen zu arbeiten, sie zurechtzumodeln, sie einem Idealbild anzupassen.

Die Julia, die jetzt anstelle Lenas neben ihm liegt, ist eine synthetische Julia, die Lena in allem übertrifft. Er könnte sie zu einer Frau voller Schwächen, voller Laster machen: Sie bliebe trotzdem unweigerlich Gegenstand seiner Liebessehnsucht; er muß, stellt er fest, seinen Mut am Imaginären kühlen, das sekundenschnell unter der Oberfläche aufschimmert; er muß das Unmögliche glauben.

So wird er die Zeit zwingen, stillzustehen oder dahinzurasen, in beliebiger Richtung, mit beliebiger Geschwindigkeit. So wird er aus den Tagen steigen können wie aus einem Auto oder Omnibus. So wird er die Glückssekunde anhalten können, die schleichenden, öden, kümmerlichen Jahre zum Wirbelwind machen, der alles mitreißt.

Die Sonne wird durchbrechen, Schluß machen mit seiner schläfrigen Gleichgültigkeit. Endlich erscheint er als Zeitmaterialist, Zeitsurrealist, Zeitmechaniker, der die neuesten Errungenschaften jedem bekannt macht. Er besitzt das Telefon, mit dem er ohne Schwierigkeiten vom WEISSEN ZIMMER aus alle erreichen, mit allen sprechen kann.

IM WEISSEN ZIMMER selbst sprechen die Dinge: diese Wasseroberfläche, auf die unentwegt Regen fällt; diese glitzernden, kichernden Kugelflaschenköpfe, die, ohne Angst zu machen, ständig klingeln, während Stefan am Rand der Röhre zum Abgrund hockt, im Rucksack eine Bombe, die dieses WEISSE ZIMMER, diese komprimierte Sekunde des Glücks aller jetzt noch Schlafenden vernichten könnte.

Einen Augenblick glaubt er, daß er alles in die Luft sprengen müßte, um die Menschheit vorm Ende der Zeit, dem gesammelten Glück, zu bewahren. Dann erkennt er, daß er kein geborener Attentäter ist, und läßt die Bombe versinken.

Diese bemoosten Mauern, zerrissenen Tapeten. Diese dachlosen Pfeiler, wasserüberspülten, zersprungenen Kacheln. Diese leeren Fenster, vor denen sich die wüste Landschaft im süßesten Grün nur so lange ausbreitet, solange man sie nicht ins Auge faßt.

Davor bewahrt ihn das WEISSE TELEFON, mit dem er die Verbindung zwischen der schlafenden Julia - ob sie noch keucht unter der Last ihres Ludwig? - und der schlafenden Lena mit einem Knopfdruck herstellen kann.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

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