Mittwoch, 19. Dezember 2012

DB-048 (19) (Natürlich brennst du drauf)

Natürlich brennst du drauf, daß ich das Oskar-Thema weiterführe. Du hast mir diese selbstverordnete Therapiereise nicht ausgeredet, hättest ja keinen Grund dazu gehabt. Du hast sie aber auch nicht ausdrücklich befürwortet, wie immer als abgefeimte Strategin auf dem Terrain deiner Ambivalenz.

Du läßt mich kommen, das ist dein Allerweltsspruch, der alles erklären soll. Sie läßt mich kommen, denke ich voller Wut, aber ich komme nie. Gerade zufleiß. Denn obwohl ich da bin, bin ich auch abwesend. In einen Ekel vor meiner Anwesenheit versunken, ist meine Bereitschaft zu irgendeinem Bekenntnis auf den Nullpunkt gefallen.

Ich bin mitten in einer Depression, sehe in Götz den unmittelbaren Auslöser, entdecke dann aber in mir als Mitursache meine Unzufriedenheit mit dem Verlauf der Begegnungen mit Oskar.

Aber was soll sich denn entscheiden? Es müßte doch genügen, Oskar wieder gesehen zu haben. Einige Augenblicke des Wieder-Erkennens, des Aufleuchtens eines vergessenen Vertrauens. Es muß doch nicht alles zu einem unauslöschlichen Höhepunkt hinführen, noch dazu, wo es sich bei ihm um einen alten Mann handelt, realistisch betrachtet. Um einen Mann, der sich dem Alter nähert, in dem er sich immer schwerer öffnen kann.

Vielleicht ist er schon so verschlossen, daß er nur mehr an einem Spiel mit seinen Erinnerungen interessiert ist, daß es ihn peinlich berühren würde, wenn eine dieser Erinnerungsfiguren real, mit realen Forderungen, jetzt vor ihn hintreten würde. Warum soll ich also in ihn eindringen? Womit auch? Womit soll ich ihn aufscheuchen aus der beruhigenden Gefühlsgewöhnlichkeit?

Du sagst immer, auch ich hätte mich geändert. Genf ist schon lang kein magnetischer Lebensstützpunkt mehr. Seit ich das Unterrichten aufgegeben habe, bin ich genug in der Welt herumgekommen. Überall bin ich auf mehr oder minder vertrauenerweckende Überlebende gestoßen, ernstzunehmende Vaterpersonen, die allerdings Oskar sein Erstlingsrecht nicht streitig machen konnten.

Überall hat es diese grausamen Brüche, Abschiede und Fluchten gegeben. Überall bin ich auf diese unverständliche Selbstzerstörungswut gestoßen, die jetzt wieder in mir rumort.

Obwohl sich der Waggon geleert hat, wird es mir zu eng. Grünau, ich beschließe auszusteigen. Ich versuche, möglichst schnell aus dem bewohnten Gebiet hinauszukommen. An schmucken, teilweise im Umbau begriffenen Ein- und Mehrfamilienhäusern vorbei, an einer gepflegten neuapostolischen Kirche, einem Feld, auf dem inmitten der Reste von Schneemännern ein Wagen steht mit Gummirädern und einem mit Grün, Gelb, Blau und Rot bemalten Türchen versehenen Aufbau, der ein Bienenstock sein könnte, gerate ich auf einen Weg, der direkt in einen mit Föhren durchwachsenen Birkenwald führt.

Weil ich mich unbeobachtet fühle, beginne ich zu laufen. Ich will mich ermüden.
Kurz vor den S-Bahn-Geleisen stoße ich auf drei Buben, die Knallkörper werfen. Als sie mich erblicken, legen sie etwas auf die Schienen. Um ihnen auszuweichen, gehe ich eine Weile den Bahnkörper entlang und überquere ihn, nachdem eine S-Bahn in Richtung Stadt vorbeigerauscht ist.

Danach fällt mir ein, daß mich Oskar vor der dritten, etwa in Kniehöhe angebrachten Schiene, die stromführend ist, manchmal sogar unverhüllt, schon mehrmals gewarnt hat. Das habe ich nicht beachtet.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

(Blick zum Nachbarn: B-06 PALME/RICHTEX, BAHNALOG)

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