DB-053 (21) (Beate wendet sich wieder dem Sockenstopfen zu)
Du siehst, in Beate habe ich (erstaunlicherweise über die Grenzen des Systems hinweg) eine Art Leidensgenossin: Um nicht vom Geschichtsstrom mitgerissen und weggeschwemmt zu werden, hat sie sich einen kleinen Zufluß, der schon längst versiegt war, als Quelle ihres Selbstverständnisses ausgesucht. So kann sie geistig bestehen, Widerstand leisten, auch gegen ihren Vater, und dieser läßt sich sogar als Zuträger einsetzen.
Es gibt in ihrer Familie sichtlich beide Traditionen, das Mitschwimmen und den Widerstand, und Beate hat das Mitschwimmen zunehmend verweigern können, vor sich ein Vorbild, das sie noch dazu in einem nahen Verwandten finden konnte. Sie kann sich auf eine scheinbar verlorengegangene Position berufen, kann ihren Großvater im Widerstand gegen ihren Vater einsetzen, zugleich aber die Vorteile seiner politischen Stellung ausnutzen.
Die Gruppe des Großvaters, setzt Beate fort, sei im November I936 von einem Gestapo-Spitzel, einem ehemaligen KPD-Linken, verraten worden, der im Prozeß auch den Hauptbelastungszeugen abgegeben habe. Dabei hätten alle Angeklagten zwar ihre Schuld im juristischen Sinn, nicht aber im moralischen anerkannt.
Beate zieht den Brief des Freundes ihres Großvaters aus einer roten Mappe und legt ihn vor Stefan hin, der ihn aufmerksam studiert. Der Freund habe Bedenken gehabt, weil er das Ansehen des Großvaters mit (wie er es nannte) zwielichtigen Details nicht beschmutzen wollte.
Sie lacht verhalten. Er habe jedoch eingesehen, daß die Wahrheit schwerer wiege als die persönliche Rücksichtnahme, noch dazu auf einen Toten; daß eine wohlüberlegte und durch Zeugen belegbare Geschichtskorrektur wichtiger sei als das opportunistische Zukleistern der noch nicht zerstörten Quellen.
(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)
(Seitenblick: B-09 PALME/RICHTEX, BAHNALOG)