Freitag, 28. Dezember 2012

DB-054 (21) (Beate kann nicht mehr sitzen)

Beate kann nicht mehr sitzen, weil sie das Kreuz schmerzt. Du siehst eine Frau sich ans Bücherregal lehnen, an deren Körper ein dünner, weißer Pulli und eine rote, schlabbrige Hose hängen, die darunter so mager ist, daß sie mich, als sie gestern abend nackt und triefend aus dem Bad zum Telefon in ihr Zimmer gelaufen ist, sofort an gewisse Abbildungen erinnert hat, auf denen nur hohläugige Gerippe zu erkennen sind.

Sie müßte zusammenbrechen, aber die Begeisterung für den Großvater scheint sie zu stärken. Im Brief seines alten Genossen wird ihm große Denklust zugesprochen, sagt Beate. Die Grundlagen dazu hat er aus statistischen Jahrbüchern und dem Handelsteil der bürgerlichen Presse entnommen. Seine Reden hat er nicht mit Zoten, sondern mit geistreichen Wortspielen aufgelockert.

Immer korrekt gekleidet, aber persönlich anspruchslos, hat er die Fadenscheinigkeit seiner Hose zum Wahlspruch erhoben: In dieser Hose werden wir siegen! Zuhause hat seine Frau das Regiment geführt. In die Erziehung seiner beiden Töchter hat er nicht eingegriffen, was mein Vater (also Oskar) nicht anders gemacht hat.

Trotz aller Aufgeschlossenheit seien sexuelle Dinge als Gesprächsthema tabu gewesen. Obwohl theoretisch monogam, habe der Großvater, darin siegreicher Nebenbuhler des Briefschreibers, zwei Freundschaften parallel zur Ehe weitergepflogen: einerseits in Form von gelegentlichen Stelldicheins mit einer schönen polnischen Schauspielerin, der er stets ein Souvenir zu hinterlassen pflegte; andererseits in Form von fast täglichen Besuchen bei seiner Leipziger Jugendliebe, die ihm 1935 nach Duisburg gefolgt sei und nach seiner Verhaftung Selbstmord begangen habe.

Beates Großvater ist zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt worden und I944 nach Auschwitz und dort sofort ins Gas gekommen. Damit ist er jedweder Kritik entrückt, lebendig als beispielhafte Energie.

Genauso unangreifbar erscheint mir mein Vater: Denn wenn er die Tatsachen seines Lebens so lang überleben und bewältigen konnte, kann ich ihm keine Schuld geben an den Tatsachen meines Lebens. Alle meine Vorwürfe gegen ihn haben sich als lächerlich, kleinlich und nichtig erwiesen, sind in sich zusammengesackt in Anbetracht des Umstands, daß er ein Leben wie im Buche geführt hat. Das macht ihn unverletzbar, bei allen berechtigten Vorwürfen, schuldlos in jedem Fall.

Unterm Strich kommt für mich der Zwang heraus, alle Schuld auf mich zu nehmen, so als ob ich bereits mit einer Schuld geboren worden wäre, als ob meine Geburt die größte Schuld gewesen sei.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

(Seitenblick: B-10 PALME/RICHTEX, BAHNALOG)

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