DB-72 26 (Zuerst der Widerstand)
Zuerst der Widerstand, überhaupt etwas zu tun. Das heißt eine grenzenlose Passivität, eine Müdigkeit, als wäre Stefan die ganze Nacht treppauf, treppab gelaufen, immer hinter dem Schein, der Negativform Julias her. Aber um sie läßt sich jetzt kein Traum mehr rekonstruieren, nur jene schrille, dunkle Szene, die sich so nicht ereignet haben kann. Außerdem weigert sich Stefan, jede Verantwortung für seine Hoffnungslosigkeit zu übernehmen, und füllt die dadurch ausgesparte Zeit, den undefinierbaren Erinnerungsfleck auf seiner Retina lieber mit Konturen, die ihm vertraut sind.
Ohne Anstrengung taucht jetzt Josef auf, nachdem klargeworden ist, daß der kommende Tag dazu bestimmt ist, über die Grenze zu wechseln. Josef könnte jetzt noch in Wien sein, aber genausogut wieder zurück in seiner Wohnung in West-Berlin. Wenn Stefan drüben angelangt ist, würde er ihn auf jeden Fall anrufen. Vielleicht würde es zu seiner Beruhigung schon genügen, die Stimme Josefs zu hören. Vielleicht würde er ihm gar keine Vorwürfe machen müssen wegen der Wiener Beunruhigung. Vielleicht wäre eine klärende Aussprache, die die Machtprobe des Schweigens, der abgerissenen Erklärungen, des schlechten Gewissens unterbrechen würde, der Anfang zu einem anderen Verständnis ihrer Freundschaft.
Wie gestern kommt auf Stefans Klingelzeichen ein Beamter aus einer Tür in eines der durch mannshohe Holzwände gebildeten Abteile und mustert den ihm vorgelegten Paß. Das für die Verspätung angeführte Märchen von der kranken Familie zieht nicht. Der Mann sagt nur ungerührt, Stefan habe gegen die Gesetze der DDR verstoßen und deshalb zehn Mark Strafe zu zahlen. Weiters habe er den entsprechenden Tagesumtausch nachzuholen. Da bei der Staatsbank nebenan keine Schecks, sondern nur Devisen angenommen werden, erwirbt Stefan mit seinen letzten Ost-Mark ein Tagesvisum nach West-Berlin und entgeht weiteren Schwierigkeiten, indem er verspricht, noch am selben Abend seine Schulden zu begleichen.
Nachdem Stefan Ost-Berlin mit der S-Bahn verlassen hat, stellt er, wie schon vor Jahren, beim ersten Anblick des West-Berliner Verkehrs, der West-Berliner Straßen sofort bei sich einen Ekel fest, einen Umkehrwillen, einen Widerwillen, sich dem jetzt auszuliefern, dieser vorhersehbaren Verwirrung, diesem widersprüchlichen Bewegungsknäuel, diesem veränderten Tempo und Geruch. Vollgestopfte Auslagen, asiatisches Kunstgewerbe, Billigbücher, Kebab-Läden, Kosmetika, Beate Uhse, Peep-Shows, Sex-Kinos, Mercedes-Stern: Alles drängt sich auf, schreit laut und beständig, macht Stefan sofort hilflos, verschlossen und zwingt ihn, gerade erst angekommen, schon wieder zur Flucht.
Zur Beruhigung, als eigenwillige Kompresse über seinen zuckenden Kopf, verordnet er sich Kunst. Eine Frau zeigt ihm den Aufgang zur Legér-Ausstellung in der Budapester Straße. Legér erwartet ihn mit kräftigen Farben und schwellenden Gliedern. Stefans Kopf aber, seine Haut, seine Augen brennen, sein Herz japst und torkelt, seine Lunge zittert, seine Leber rotiert, sein Magen rebelliert gegen die Schwerkraft des altbekannten Neuen.
Abwehren, Josef gleich anzurufen. Abwehren, den schnell eingetauschten 50-Mark-Schein wegen der Telefonpfennige zu zerreißen. Die Ungewißheit bestehen lassen, gegen die Ungewißheit selbst bestehen. Sich treiben lassen, unwillig, unfähig, diesen Augenblick zu genießen. Zugleich keine Kraft heraufholen können, sich diesem Wegwerfen zu widersetzen.
Sich schließlich ins nächstbeste Kino setzen. Im Halbdunkel die Uhr, die grün die Zeit anzeigt: 12.51 Uhr. Ein Film geht zuende: Im letzten Moment wird eine Frau vor ihrer Vergewaltigung bewahrt. Langer, überdehnter, lächerlich wirkender Kampf zwischen dem Bösewicht und dem Liebhaber. Immer wieder rafft sich der eine, dann der andere auf. Schließlich fällt der verhinderte Vergewaltiger auf die drei Zinken einer Mistgabel. Er stirbt urplötzlich. Blutverschmiert klammern sich die Gerettete und ihr Liebhaber aneinander. Auf einmal stoppen zwei Autos. Eines explodiert sofort, aus dem zweiten springen zwei eindeutige Ganoven, die einen Dritten, der neben einer Zigarre ein teuflisches Grinsen im Gesicht hat, in einen Rollstuhl setzen. Er läßt sich ein Gewehr reichen. Ein Schuß fällt. Die Gerettete schreit: Nein, Vater! Der Retter taumelt getroffen, konvulsivisch zuckend. Ein zweiter Schuß. Die Braut streckt ihrem Geliebten die Hände entgegen, ohne ihn zu erreichen. 13.17 Uhr. Das Bild friert ein.
Draußen regnet es noch immer Schneeflocken. Josef hätte die Freundespflicht gehabt, Stefan auf dem Bahnhof Zoo zu erwarten. Die gesammelten Vorwürfe an ihn, sein gesammeltes Schweigen. Stefans Wut, die zu einer länger andauernden Gleichgültigkeit hätte werden können. Stefan beschließt zu gehen, wenn möglich ohne Reflexionen und Schuldgefühle.
(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)