Freitag, 15. Februar 2013

DB-77 (27) (Oskar greift nach meinen Händen)

Oskar greift nach meinen Händen. Die Regierung hat erklärt, daß die Intershop-Läden nicht ständig die Begleiter des Sozialismus sein würden. Aber solange wir die Devisen ... Er schüttelt den Kopf, läßt meine Hände wieder gleiten, lacht heiser, die Augen mit schelmischem Eifer auf mich richtend. Jetzt würde Götz sagen: Das ist doch der reinste Drei-Klassen-Staat. Kennst du den Spruch? Ich verneine.

Die Shopper, die gehn in die Intershops. Die Exer belagern die DDR-Mark-Exquisit-Läden. Und die Hopper&Gipser, die Otto-Normalverbraucher, die keine West-Verwandten haben, die hoppen von einem Laden zum andern und fragen: Gibts was, gibts was? Für diese Demonstration seiner Möglichkeiten der Selbstpersiflage, das heißt des Springens über den historischen Schatten seiner Person, ohne Würde und Anstand zu verlieren, verdient er eindeutig eine zärtlichere Zuwendung. Ich vermeide das Wort Onkel, obwohl es mir auf die Lippen kommt.

Bevor ich aber anknüpfen kann, legt Oskar noch ein Schäufelchen nach: Er gebe ja zu, daß der wunde Punkt die Steigerung der Effektivität und der Arbeitsproduktivität sei, die allseitige Planerfüllung. Aber die Diagnose seines neunmalklugen Schwiegersohns sei immer nur Krise, Krise.

Er blickt mich bekümmert an. Womit Götz falsche Steuerung meine. Der setze mehr auf die betriebliche Selbständigkeit, weil eben weder Prämien noch Leistungsanreize eine ausreichende Produktivitätssteigerung gebracht hätten. Größere Verantwortungsbereitschaft und Risikofreude könnten nur mit mehr Mitwirkung auf Betriebsebene belohnt werden. Dabei weiß der Kerl ebensogut wie ich, will Oskar festgehalten wissen, daß das, was er sich Krise zu nennen traut, größtenteils importiert ist. Daß die Fehler jetzt viel weniger im Planungssystem als in der gesamten Weltwirtschaft liegen.

Oskar, Goldonkel, bis oben zugeknöpfter Onkel, Vortragsonkel, Wortgourmet, Zappler vom Dienst, Disziplineur, der nur stur einen Weg gehen kann, Scheuklappen-Alter, dessen Haare sich sträuben, männlich bis zum Tod, wenn ein Konkurrent erscheint, der ihm den Rang ablaufen könnte. So müßte man ihn kriegen: Wie in einem lebendigen Bild ihn arrangieren, damit er nicht noch mehr zappeln muß. Und nur eine einzige Bewegung zulassen: meine! Meine Bewegung auf der Couch (die in keinem Detail der deinigen ähnelt), über dieser schüchtern-nachgiebigen Zentralfigur meines Lebens, die die Zeit an den äußersten Rand gedrängt hat.

Ich sehe mich mit einem ständig störenden Erinnerungsmann raufen. Er hat die Züge Oskars, seinen Körper, aber er ist nicht da. Der anwesende Oskar bietet keinen Widerstand mehr. Er hechelt vor sich hin. Er muß seine Sexualität aus einem tiefen Brunnen holen. Ich schaue ihm zu. Ich schaue mir bei meinen Eingriffen zu. Ich schaue mir zu, wie ich mir ins Gesicht blicke, den Kopf schüttelnd, ablasse von einer unsinnigen Wiederholungsbemühung.

Schließlich siehst du Lena neben Oskar sitzen, zwei Lenas übereinander neben zwei Oskars übereinander, weder glücklich noch unglücklich über das Schillern der Umstände. Sie halten einander an den Händen und wissen nicht, welche Kontur sie im Auge behalten sollen. Also stehen sie auf, ziehen sich an und erkennen einander mit Kaffeetassen in der Hand, aus ihnen kalt gewordenen Kaffee schlurfend, was sie nur verständnisvoll lächeln läßt

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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