Sonntag, 17. Februar 2013

DB-78 28 (Zwischen den Menschen)

28

Zwischen den Menschen, die ihn von allen Seiten bedrängen, hindurch, schon beinahe erleichtert über die herrschende Düsternis, die nur der nun doch liegenbleibende Schnee aufhellt, patzig auf den Kopfbedeckungen und Kleidern der Fußgänger und Fußflieger: Stefan auf der Suche nach Freud. Für Julia Freud, zu ihrer Freude der gesammelte Freud, ein Abschiedsgeschenk, das er sich nicht erlauben kann, weil er nicht weiß, wo er alle Bände verstecken kann. Er einigt sich mit sich auf die Traumdeutung und das Sexualleben, eventuell noch den Witz.

Sein Magen hört nicht auf zu brennen. Seine Unlust entgrenzt ihn. Daher flüchtet er zu Karstadt, sich an den Traum von Götz erinnernd. Eine Frau mit einer Riesenpackung Pampers. Hinter ihr zwei Männer, die jeweils eine Kiste Cola über die Köpfe der Kunden hinwegschwingen. Trotz seines ekelhaften Magensaftgeschmacks im Mund läßt sich Stefan in die Lebensmittelabteilung transportieren, stellt sich mit kaum beherrschtem Gesicht in die Reihe der Käufer, erwirbt bedenkenlos die fünf teuersten Käsesorten, die verschiedensten Wurstspezialitäten, alles, was es an exotischen Gewürzen gibt, und eine entsprechende Menge Knoblauch, aufgestachelt von der Vorfreude auf das notgedrungen dankbare Gesicht seines Ost-Berliner Gastgebers.

Im Bahnhof versucht er dann, die zur Einfuhr nicht zugelassenen Bücher in seiner eigens zu diesem Zweck unter dem Mantel angezogenen Jacke zu verstauen. Dazu bleibt er im Stiegenaufgang in halber Höhe stehen, legt das Einkaufsnetz mit den zusammengefalteten Ost- und West-Zeitungen, die schwarze Tasche mit Paß und Brieftasche, die Pakete mit den Lebensmitteln und Süßigkeiten neben sich auf die Stufen und verstaut die drei Bücher so in seinen Taschen, daß sie nicht auffallen können, tauscht ein Buch mit dem Paß in der Handtasche, setzt den Verteilungsvorgang fort.

Oben am Bahnsteig betrachtet er die Leute, als hätten sie sein auffälliges Hantieren als einen subversiven Akt wahrnehmen müssen und würden das sofort der nächsten Polizeidienststelle melden. Obwohl ihm eines der Bücher noch immer falsch plaziert erscheint, wagt er es nun nicht mehr, hier vor den Augen möglicher Denunzianten eine Umgruppierung vorzunehmen.

In der S-Bahn ein junger Mann mit langen, blonden Haaren, der sich sofort auf die rote Plastikbank zwischen den Türen plumpsen läßt. Die Fahrgäste, die Stefan gegenüber sitzen, beobachten ihn mit einer Mischung aus Verachtung und Neugier: Stefan muß sich zwingen, sich nicht umzudrehen, um nicht die in fremden Augen wahrgenommene Reaktion mit einem eigenen Eindruck zu vergleichen. Der Mann kommt ihm zuhilfe: Auf einmal steht er schräg vor ihm, sich zu dem dort kuschelnden Paar hinunterbeugend. Beide schütteln energisch den Kopf, ohne ihn anzublicken, worauf dieser seine Mähne emporschnellt, sie weiter auf und ab flattern läßt vor entweder eisern Vor-sich-Hinblickenden oder beinahe zornrot Anlaufenden. Seine vertrauliche Demut, sein begehrliches Flüstern, seine Schlangenbewegung von einem verborgenen Ohr zum andern, bis er sich resigniert auf die Sitzbank am andern Ende des Waggons wirft, den Körper beinahe in die Waagrechte klappt. Erst bei der Station Lehrter Bahnhof läßt er sich zwischen den schon schließenden Türen auf den Bahnsteig fallen.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

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