Donnerstag, 28. Februar 2013

DB-83 30 (Kottbuser Tor)

30

Kottbuser Tor. Stefan verläßt die U-Bahn. Aufgewacht ist er in der Wohnung Josefs in einem Haus am Winterfeldtplatz, dessen Innenhof am Vormittag die seltsamsten Laute produziert: Kreischen, als würden sich Papageien um etwas streiten; hohes, höllisches, unbarmherziges Gelächter, das plötzlich abbricht und unvermutet wieder anfängt; scheinbar hymnisches Stimmengewirr, an- und abschwellend; dazwischen Klatschen, wie Schläge auf nackte Haut, und blechernes Trommeln. Zuerst glaubt er, ein Musikstück werde geprobt. Dann erfährt er vom ersten im Bad auftauchenden Mitbewohner Josefs, daß das die Mongoloiden seien, die in einem Seitentrakt untergebracht sind.

Nehmt Abschied. Überall diese Sprücheklopfer, die sich mit hakiger Schrift ins Hirn graben wollen. Nehmt Abschied schreit die Steinwand neben der Bäckerei, wo sich Stefan die Frühstückssemmeln geholt hat. Kill Reagan tomorrow auf einer grauen Wellblechjalousie, tomorrow rot durchgestrichen, ersetzt durch now. Und gegenüber auf einem Gebäude, das gerade renoviert wird: Glaube & Hoffnung in Orange auf einer kleinen, weißen Tür inmitten bloßen Ziegelwerks, über das ein gesprühter Pfeil zu einem weiß verputzten Quadrat mit einem zugenagelten Fenster führt, das in Großbuchstaben Hoffnung verkündet.

Neben dem Markt eine steil anfragende Hausrückwand, deren Botschaft: Berlin stirbt abrißweise. Gleich dahinter der Kran, der sich im Moment nicht an die Aufforderung der winzigen, gelben Zettel auf den großen Werbeplakaten für Zigaretten, Schokoladen, Kameras und Autos hält: Bewegt euch, bewegt euch. Der Kran ragt.

Dagegen die riesige Kugel der Fa. Geld Geier & Co auf dem in grellen Farben bemalten, flachen Klosettbau zerstört unbarmherzig ein mehrstöckiges Haus, während rechts, über einer schwarzen Autobahn, die geradewegs in den Himmel führt, die Sonne vor Trauer aus der Fassung gerät.

Ohne Bullen kein Krawall. Stefan stößt auf Schritt und Tritt auf die grünen Männer mit den Schlagstöcken und den Walkietalkies, an den U-Bahn-Eingängen, vor den Kaufhäusern, auf den Straßen. Überall parken Polizeiautos und Gefangenenwagen. Ein großes, weißes Plakat, das mit den Aufschriften Bleiben Sie hier! Kommen Sie mit! locken will, zeigt keine Polizisten, nur einige Repräsentanten des Bevölkerungsquerschnitts, von Sprayern mit Augenbalken versehen und einem Ersatztext: Hauen Sie ab!

Kottbuser Tor. Hinter dem orangefarbenen Wohnsilo quer über die Adalbertstraße warnt ein Verputzüberrest mit einer handgemalten Aufschrift vor einem Kraftwerk in Neukölln und den Folgen von Schwefeldioxid - Dauerhusten, Magenschmerzen, Hautreizungen, Herz- und Kreislaufstörungen. Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt. Eine schmutzige, freie Fläche zwischen den Häusern, auf deren Mauern die Umrisse des Hauses, das hier abgerissen worden ist, zu erkennen sind. Unter einem vergessenen Schild (Stilmöbel Olfe) der Bild-Vergleich: KZ war Mord. Hochsicherheitstrakt ist Mord. Daneben eine schwarzhaarige Frau im Profil, mit rosafarbener Brille und grünem Ohr-Dreieck, die sich mit einer japanischen Kleinkamera die Nase reibt.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

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