O-05 - SCHATTENBLITZ

sie atzte ihn, er ließ sich atzen.
Wir saßen zu viert an einem Tisch
in der Mittagsglut im Schatten, lachten,
aßen in ansteckender Heiterkeit, voller Respekt,

Neugier, traumwandlerischer Anwesenheit.
Sie atzte ihn mit ihrem Essen, kleinen
vorgekauten Bissen wie ein Baby.
Er sperrte den Mund auf wie ein Vögelchen,

klappte ihn gleich wieder zu. Sie war bereit,
ihn weiterzuatzen. Atzen, äsen – zwei
ihnen völlig unbekannte Wörter.
Sah mich jetzt aufgespaltet in ihre Hand,

seine Lippen. Erhoffte Lust aus einem Dazwischen-
Verharren irgendwo in der Luft,
im Schattenblitz, der sich materialisiert
und auch selbst ausspricht. Sah mich

zugleich noch an der Brust meiner Mutter
ohne Bewußtsein. Es war ihre Hand,
die jetzt nach mir griff, alles und jeden
nährte und gleich wieder zerfiel

(Do, 22.06.2000, 'Bratislava)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

(Blick zum Nachbarn: Freaks Nr. 31.)
BUCH BLOG - 2011-03-30 23:01

Ich habe dieses Gedicht mit Genuß gelesen, sozusagen , aber es fällt mir nicht leicht, das zu erläutern. Vielleicht so... atzen erweckt in mir unangenehme Assoziationen... die Erinnerung an diese Schmatzgeräusche der Erwachsenen beim Essen. Wie unappetitlich, denkt das Kind. Dazu diese an sich doch schöneSituation, dass in aller Öffentlichkeit so demonstrativ lieb zwei miteinander umgehen. Interessant, wie sich aus dem WIR SIE und ER herauschälen und ein "ich", da s sich nicht auspricht, ab "sah". "Schattenblitz"... eine sehr poetische Worterfindung, Metapher für einen sehr schnellen Wechsel zwischen Hell--Dunkel. Hier auch die Rückkehr zur Brust und Hand der Mutter. Es endet traurig, macht aber nicht traurig... sonst würde ja jede Erinnerung an etwas weiter Zurückliegendes traurig machen... mein Trost!

e.a.richter - 2011-03-31 02:15



Ernst Jandl, Babsi Daum, Bratislava, 22.6.2000
BUCH BLOG - 2011-03-31 20:28

Zusammenhang??
e.a.richter - 2011-04-01 23:26

Die Anregung zu diesem Gedicht kam von einem Paar, das ich nach dem Besuch der Ausstellung der Buchobjekte Babsi Daums in der Galerie X in Bratislava im Café Ante Portas beobachtet habe.
(Und der Zusammenhang zu Jandl: "...was meine Arbeiten allerdings meistens verbindet, ist die Inspirationsquelle Literatur, das heisst Geschichten, Texte, Gedichte, Sätze...")

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