D-19 PARIS ODER SO

Paris, plötzlich so fern wie nah, als ob ich wüßte, wovor
ich entweiche, nicht aber, wonach ich suche: immer wieder
die Versuchung zur Flucht zu Menschen in fremden Ländern,

in ihre vielleicht genausowenig gesunde Moral, ihre Sitten,
sie kommt und geht; und besser und schlechter ist gleich; gleich
auch das Hier- und das Dortsein: auf einmal La Grande Arche

auf dem Bildschirm, vor mir auf dem Blatt, schimmernd,
Ansporn zum Aufbruch, der dann nicht stattfindet, auch nicht
für eindringlich Fragende: wie es denn gewesen sei am Rive Gauche,

auf dem Eiffelturm, im Hotel Saint Simon bei überschwappendem
Atlantikwetter, an französischen Tischen, all die Tests in Geduld und Neugier:
stets ein Gewinn, einen unzweifelhaft schlechten Zustand

gegen einen nur zweifelhaften einzutauschen, wie Montaigne meint,
baumhaft aus seinem Grab irgendwo draußen heraufwachsend;
im Duett mit dem Mann von La Mancha, hauchdünne Stimme

aus dem Radio, Mensch gegen Figur, die sich erhebt aus dem Staub
und gegen die Reflexe des Fensters, der Lampe, dieses Zimmers ankämpft,
in dem alle meine künftigen Entscheidungen schon bereitstehn

(Samstag, 26.12.1998)

(Erschienen in: Das leere Kuvert, Bibliothek der Provinz, 2002)
e.a.richter - 2012-02-08 22:40

Da ich heute im Medienticker auf jenes Zitat gestoßen bin, das ich in diesem Gedicht verwendet habe, habe ich es heute hier eingestellt.

"Jenen, die mich fragen, warum ich auf Reisen ginge, pflege ich zu antworten, dass ich zwar wüßte, wovor ich fliehe, nicht aber, wonach ich suche." (Montaigne)

e.a.richter - 2012-02-09 08:38

Das Gedicht entstand in einer Situation, wo ich mir noch nicht sicher war, ob ich tatsächlich nach Paris fahren würde oder nicht. Ich hatte mich aber schon im Internet über Hotels und auch das Wetter informiert. Danach hatte ich aus einem Prospekt ein Foto eingescannt, das die Grande Arche zeigt, und für eine Neujahrskarte bearbeitet. Sie sollte auf jeden Fall abgeschickt werden und allen einen Aufenthalt in Paris suggerieren.

Ich hörte am Nachmittag im Radio einen Essay von Cees Nooteboom über seine Reise zu Orten des Manns von La Mancha, dessen Ergebnis war, daß oft die literarische Figur realer im Bewußtsein der Menschen zurückbleibt als ihr Urheber.

e.a.richter - 2012-02-10 16:41



(La Grande Arche, Paris, 1999)

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