DB-004 2 (Ohne sich erleichtert zu haben)

2

Ohne sich erleichtert zu haben, verläßt Stefan das Bahnhofs-WC und kehrt zu Lena zurück, die ihn, vor Kälte steif, erwartet und ungeduldig trotz der Menge Zeit bis zur Abfahrt des Zuges. Während sie sich mit dem Handgepäck ins Glashaus des Buchungsschalters zurückzieht, transportiert Stefan die Koffer in den ersten Stock, um sie in einem der Warteräume abzustellen. Dort stößt er auf einen Polizisten, der, mit gerötetem Gesicht seine Kappe in der Hand haltend, eine alte Frau zu bewachen scheint, die auf einer Bank in der Ecke zusammengesunken ist. Als er Stefan bemerkt, setzt er seine Kappe wieder auf und weist mit verächtlich verzogenem Mund auf die gelbliche Lacke, die quer durch den Raum verläuft. Stefan begreift den Zusammenhang, überlegt einen Moment, ob er die Hilfe des Polizisten überhaupt in Anspruch nehmen soll, doch dieser kommt ihm zuvor: Wenn ihm der Gestank nichts ausmache, könne er die Koffer ruhig dalassen. Die alte Frau blickt nicht auf. Sie stellt sich schlafend. Nur ihr schneller Atem verrät, daß sie sich über diese Demütigung aufregt. Stefan verspürt eine unsinnige Wut. Er muß den Polizisten brüskieren. Dazu fällt ihm aber nichts anderes ein, als ihm zumindest die Funktion des Kofferhüters wieder zu entziehen. Doch kaum hat er den Raum verlassen, hört er einen dumpfen Aufprall. Die alte Frau ist von der Bank gekippt, und der Polizist hat in einer unkontrollierten Angst- und Hilfsreaktion seinen Fuß in die Pisse gesetzt. Er zerrt an der Frau, die sich schwer macht, zieht sie weg, eine glänzende Schleifspur am Plastikfußboden hinterlassend, und müht sich ab, sie auf der Bank wieder aufzurichten. Weil er das nicht schafft, geht er auf Distanz und zupft sich seine Uniform zurecht.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

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