DB-005 (2) (Stefan dreht sich um)

Stefan dreht sich um, da steht Lena hinter ihm. Der Zug sei bereits eingetroffen. Da er ihr aber nicht schweigend im vermutlich noch kalten Coupé gegenüberzusitzen will, bittet er sie, vorgehen. Er wolle noch eine Weile in der Halle herumschlendern, um sich zu beruhigen. Aber er hoffe noch immer darauf, daß Josef vor der Abfahrt auftaucht.

Zuerst so lange keine Nachricht von ihm. Dann die Karte, die Stefan ein Wiedersehen erwarten ließ. Und jetzt, da er seit dem frühen Morgen von Berlin her unterwegs sein müßte, kein Anruf von unterwegs, kein Lebenszeichen, obwohl auf der Strecke dichtes Schneetreiben herrschen muß. In einem Schreckbild ist Josef samt Freundin bereits an einem Baum zerschellt, im sich meterhoch auftürmenden Schnee versunken, unauffindbar für alle Zeiten.

Josef bei der letzten Zusammenkunft vor etwa einem halben Jahr: schon um zehn Uhr vormittags sturzbetrunken. Den gewaltigen, einst rotlockigen, jetzt fast kahlen Schädel zwischen die Hände gepreßt, die Augen geschlossen, Schweiß auf den Bartstoppeln, so ist er beim Tisch gesessen, immer knapp am Wegrutschen und Unten-Aufschlagen. Es dauert eine Ewigkeit, bis er Stefan erkennt. Er zittert mit der Hand in seine Richtung und wirft ihm seine Scheiß-Zweierbeziehung vor, wo kein Platz mehr sei für alte Freunde, die sich aus lauter Kummer darüber dem Alkohol hingeben müßten. Er reduziert Stefans Verhältnis zu Lena auf "Scheiße im Arsch". Er müsse ihr immer wieder "die Scheiße aus dem Arsch wischen", glaube aber, das sei das ganze Glück dieser Erde, dieses "dankbare Scheiße-aus-dem-Arsch-Wischen", dieses "Scheiße-Fressen", "immer nur Scheiße, Scheiße mit den Weibern!"

Zu ebener Erde macht Stefan Runde um Runde, ohne auf Josef zu stoßen. Mehrere Männer Mitte Zwanzig stehen vor einem großen Glaskasten, in dem sich Miniaturzüge durch Tunnels, Bahnhöfe und über Nebengeleise schlängeln, halten, weiterfahren, bis die Zeit um ist und die Männer einen Moment verblüfft der Wirkungslosigkeit ihres Drehens an den Geschwindigkeitsreglern gewahr werden und sich dann schnell entfernen, ohne eine weitere Münze eingeworfen zu haben.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

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