DB-008 (3) (Das Schlimme)

Das Schlimme kann nicht weiter ausgemalt werden, denn in Děčín steigen die DDR-Grenzer zu. Auf einen umgänglichen Vierzigjährigen, der nur die Pässe kontrolliert, folgt eine etwas jüngere Frau in blaugrauer Uniform, auf dem Kopf eine Kunstpelzmütze. Neben ihr ein sehr junges, stumm beflissenes Grenzorgan, das auf ihren Wink alle Öffnungen, Nischen und Spalten im Coupé genauestens abtastet, während sie von mir verlangt, daß ich den Inhalt meiner Handtasche vor ihr ausbreite. Ich sehe, wie Stefan sich nur mühsam beherrschen kann, zugleich jedoch erstaunt betrachtet, was da alles zum Vorschein kommt: ein schwarz-rot kariertes Brillenfutteral, ein roter Frauenkalender; und dann noch ein einfaches Plastiketui. Was darin steckt, muß ich auf der Bettdecke nebeneinander ausbreiten: Visitenkarten von Männern, irgendwelchen Zufallsbekanntschaften, die damit vergeblich einen bleibenden Eindruck hinterlassen wollten, oder alten Freunden, die umgezogen sind und mir bei Gelegenheit die neue Adresse zugesteckt haben; der Zentralsparkassen- und Kommerzialbank-Kalender, ein weißes Plastikkärtchen mit abgerundeten Ecken und orangefarbenen Strichen; die Frauenzimmer- und Z-Club-Mitgliedskarte; ein zusammengefaltetes Verzeichnis der deutschen Frauengruppen (es wird vom Organ entfaltet, aber nicht gelesen); eine Netzkarte der Wiener Verkehrsbetriebe; eine Karte mit meiner Sozialversicherungsnummer; eine (nicht ausgefüllte) Notfallkarte des Gesundheitsamtes; zwei Bestätigungen der aktiven Immunisierung gegen Frühsommer-Meningoenzephalitis mit FSME-IMMUN; ein liniertes A 6-Blatt, das auf der einen Seite eine Kinderzeichnung mit der Aufschrift DAS IST EIN TISCH zeigt (obwohl ein Fahrrad zu sehen ist), auf der anderen, in winzigen Ziffern, die Aufschlüsselung der Kosten einer Autoreparatur (es muß sich dabei um einen Zettel handeln, den ich einmal versehentlich, vielleicht sogar absichtlich in deiner Praxis eingesteckt habe); ein Streifen mit zwei Automatenfotos von mir, kurzhaarig und geschminkt (das war 1978 in Paris); die Vergrößerung eines Gesichts, nur Augen, Nase, Mund (die Augen geschlossen, der Mund einladend gespitzt: ein Spaß-Porträt von dir, ebenfalls entwendet); ein Papierfragment mit dem Aufdruck "Milupa Milumil sättigt", auf dessen Rückseite eine kurze Notiz zu einer meiner Übersetzungen aus dem Amerikanischen zu lesen ist; schließlich eine Schwarzweißaufnahme deines Sohnes, nackt, unter dem Gartenschlauch mit nassem Haar und Glücksaugen.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

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