DB-037 16 (Stefan tastet sich langsam vor)

16

Stefan tastet sich langsam von der Schnellbahnstation Altglienicke bis zur Lilienstraße vor: Keine Leute mehr draußen, die wenigsten Gaslaternen brennen. Er hat nur Beates Beschreibung des Weges im Kopf.

Ein freies, kotiges Feld, eine leichte Steigung; dann die Straße hinunter, vorbei an den Einfamilienhäusern, hinter deren Fenstern elektrisch beleuchtete Weihnachtsbäume aufblinken, bis der Umriß von Ludwigs Trabant auftaucht, dahinter die Silbertanne samt Haus.

Julia hat diesmal ihre Haare zu einem dicken Zopf geflochten, schaut wie ein Schulmädchen aus. Stefan muß sofort den Wunsch unterdrücken, ihr Haar anzufassen.

Sie lädt ihn ein weiterzukommen. Ludwig sitze noch im Bad, um sich aufzuwärmen, weil er den ganzen Tag im Freien gearbeitet hat, sagt sie.

In der Küche drückt Julia Stefan ein Messer in die Hand. Er soll ihr das Brot schneiden, aber nicht zu dick. Er säbelt und bemüht sich um äußerst dünne Schnitten.

Jedes Mal, wenn ihn Julia mit ihrer braunen Schnürlsamthose streift, blickt er irritiert auf. Er wünscht sich, es wäre Absicht. Sie sollte absichtlich diese Reibung der Stoffe provozieren, die ihre Körper bedecken. Stefan hat schon Entwürfe für ein maßloses Gelächter zu zweit parat.

Julia kommt wieder, streift an und ist vorbei. Auf einmal färbt sich das Brotinnere rot: Stefan hat sich in den Daumen geschnitten, das dunkle Brot quillt, er hält den Daumen erstaunt in die Höhe, bis Julia begreift, was passiert ist. Schnell, sagt sie, das Tischtuch.

Stefan blickt noch immer interessiert auf seinen Daumen. Das Tischtuch, wiederholt Julia. Als Stefan nicht reagiert, beugt sie sich schnell vor, zieht seine Hand zu ihrem Mund und saugt zweimal kurz an der Wunde. Stefan glaubt dabei ihre Zunge zu spüren. Auf ihrem Mund ist sein Blut.

Während Stefan zum Abwaschbecken tritt, weist er sie darauf hin: Du bist blutig von meinem Blut. Julia mißt der Sache keine weitere Bedeutung bei und wischt sich mit dem Handrücken die Lippen ab.

Ihr Blick fällt auf seine Brote, die ihr zu dick erscheinen. Bevor Stefan überprüfen kann, ob sie ihn damit nur reizen will, merkt er, daß sein Blut noch immer nicht gestillt ist.

Trackback URL:
https://earichter.twoday.net/stories/db-037-16-stefan-tastet-sich-langsam-vor/modTrackback

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Free Text (1)

Dieses Weblog wird hier archiviert.

Archiv (ab 1967)

Lyrikbände:

Der zarte Leib

Friede den Männern

Das leere Kuvert

Eurotunnel

Obachter

Schreibzimmer

Romane:

Die Berliner Entscheidung

Originalverpackt oder mit Widmung über e.a.richter(ett)gmx(punktt)at erhältlich.

„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

Fliege. Roman eines Augenblicks

Aktuelle Beiträge

0126-1b A KIND OF DEPARTURE
the lady of the house speech-impaired since an incomprehensible...
e.a.richter - 2015-12-30 07:09
0126-1a AUCH EIN ABGANG
die gnädige frau sprachgestört wohnt sie seit einem...
e.a.richter - 2015-12-26 03:43
0107a - THE TEACHERS
the teachers leave the school the prettiest teacher...
e.a.richter - 2015-12-23 21:27
DT-001 FETISCH
(YVONNE) ihre weiße Bluse steif, ein Fetisch, der...
e.a.richter - 2015-12-21 12:12
DZL-18 DAS BETT
das Bett, das alles verraten wollte und nichts verriet:...
e.a.richter - 2015-10-07 04:22
DZL-17 PUPPI
was zu sehen ist, in einzelne Stücke zerlegen; alle...
e.a.richter - 2015-06-02 08:44
DZL-01 WIR GLAUBTEN AN...
wir glaubten an das Blut. Dieses Wir ist mit Vorsicht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:59
DZL-02 MEIN PATTEX
mein Zauberer hieß nicht Pattex, nicht Expatt. Er lebte...
e.a.richter - 2015-05-07 13:58
DZL-03 DER ZARTE LEIB
Zartleibigkeit wird vermißt, auch intensive Zartlebigkeit....
e.a.richter - 2015-05-07 13:56
DZL-04 - ZU MEINER ZEIT
zu meiner Zeit war gar keine Zeit. Die Zeit hatte sich...
e.a.richter - 2015-05-07 13:55
DZL-06 IN DIE HÖHE SINKEN
schwierig zu lesen: Er begriff seine Geschichte. Blatt...
e.a.richter - 2015-05-07 13:53
DZL-07 TISCHLERPLATTE
mein Vater, Tischler, hatte keine Tischlerplatte, er...
e.a.richter - 2015-05-07 13:52
DZL-08 GOLD, GLANZ, HEITERKEIT
sie sagt, ich bin älter als mein Vater, als er zu...
e.a.richter - 2015-05-07 13:51
DZL-09 WIR GLAUBTEN AN...
wir glaubten an das Blut. Dieses Wir ist mit Vorsicht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:51
DZL-10 BRAUTMASCHINE
ein Mann braucht nur eine Wand und eine Braut. Er braucht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:50
DZL-11 SCHWIMMERIN
wenn sich das Tor geöffnet hat, fährt allen in ihren...
e.a.richter - 2015-05-07 13:50
DZL-12 FRESSEN UND WUCHERN
Gedichte zu fressen ist nicht meine Sache. Ich lese...
e.a.richter - 2015-05-07 13:49
DZL-13 KONTROLLE VERLIEREN
Kontrolle verlieren, im Nebenraum, wo alles aufgetürmt...
e.a.richter - 2015-05-07 13:49
DZL-14 MUNDSCHUTZ FÜR...
es begann mit strahlenden Augen, auf einer Schnitzerei...
e.a.richter - 2015-05-07 13:48
DZL-15 JUNGE FRAUEN...
dem kleinen Mann macht die Situation einen Gefallen: zwei...
e.a.richter - 2015-05-07 13:48

Free Text (2)

Free Text (3)

Archiv

Dezember 2012
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 
 
 
14
16
24
25
27
29
31
 
 
 
 
 
 
 

Suche

 

Status

Online seit 5057 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 2016-01-06 11:08

Credits


A Roma etc.
Das leere Kuvert
Der zarte Leib
Detonation und Idylle
Die Berliner Entscheidung
Erste Instanz
Eurotunnel
Fliege (Notizen)
Friede den Männern
Jetzt
Licht, Schatten
Namen
Obachter
Pessimismus & Erfahrung
Schreibzimmer
Stummfilmzeit
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren