DB-046 19 (Du wunderst dich sicher)
Du wunderst dich sicher: Ich bin einfach in die nächstbeste S-Bahn gestiegen, nachdem ich mich aus dem Staub gemacht habe, eine Vorsichtsmaßnahme, damit dieser Silvester nicht in Unfrieden beginnen muß. Denn aufgewacht bin ich mit dem Nachgeschmack der unverschämten Vernichtung Oskars durch Götz im Herzen, was mich verbittert.
Es nützt nichts, wenn ich mir sage, daß es nicht um Götz, sondern um Oskar geht. Daß ich Götz nicht ernst nehmen darf, daß seine Gegnerschaft zwar verständlich, aber trotzdem unverzeihlich ist. Ich müßte mich beherrschen, wir sind hier Gäste. Ich dürfte Stefan nicht in meine Gefühlsfallen hineinziehen. Aber ich maßregle mich, ohne daß mich das dämpft. Ich fühle mich eingesperrt mit einer Luft, die nicht zu atmen ist, ausgeliefert meinem klebrigen Schweiß, der nicht zu stoppen ist.
Weil ich aus der Küche die Stimmen der Männer höre, verstecke ich mich unter der Tuchent und stelle mir vor, daß ich Götz, falls er auf die Wahnsinnsidee verfallen sollte, mich um Verzeihung zu bitten, nichts antworten würde. Selbst wenn er gekrochen käme, könnte ich ihn nicht eines Blickes würdigen. Aber all das traue ich ihm sowieso nicht zu. Er würde mich höchstens mit seinem unheimlichen Großmut, seiner schier unausschöpfbaren Stärke auf seine Seite ziehen und meine Parteilichkeit zermürben wollen.
Auf einmal bemerke ich, daß die beiden Buben im Raum sind. Sie wollen Stefans Kassettenrecorder und finden ihn auf dem Tisch Beates. Obwohl ich mich zeige, läßt Sascha sich von meiner Anwesenheit nicht beirren und bringt seinen Bruder dazu, daß er ihn interviewt, wobei er währenddessen seine Hand nicht vom Gerät nimmt, damit Boris es ihm nicht entreißen kann.
Wie er sich fühle. Gut, strahlt Sascha ins Mikrophon, wenn ich nicht krank bin. Nicht gut fühle er sich, wenn er traurig sei. Und traurig sei er, wenn er zum Beispiel aufgrund einer Strafe von Götz zu früh ins Bett geschickt werde. Dann lese er bis halb acht oder acht eine spannende Geschichte, und die Trauer sei weg. Und wenn er von Götz eine geknallt kriege, weine er nicht, weil er traurig sei, sondern aus Wut. Richtig traurig wäre er nur, wenn sein Opa sterben würde, Oskar-Opa. Aber der sterbe nur einmal, weshalb er eigentlich nur einmal im Leben richtig traurig sein werde.
Boris lacht betroffen, worauf sein Bruder grinst, was Boris animiert, am Gerät zu zerren, damit jetzt endlich er als der großartige Götz-Imitator, -Nachfolger und -Übertreffer zum Zug kommt.
(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)
(Blick zum Nachbarn: B-04 PALME/RICHTEX, BAHNALOG)
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