DB-052 21 (Aus meinen Selbstdarstellungen)
Aus meinen Selbstdarstellungen kennst du ja Stefans Übertragungsmechanismen schon zur Genüge. Meine Herkunft, mein notgedrungener Familiensinn, meine zwanghaften Distanzierungsversuche faszinieren ihn. Er wartet immer auf Augenblicke, in denen etwas vom Geheimnis, das jede Person meiner näheren Verwandtschaft anscheinend umgibt, ans Licht kommt. Er stellt gern enthusiastische Fragen und ist enttäuscht, wenn die Antworten weniger enthusiastisch ausfallen oder überhaupt verweigert werden.
Stefan ist ein Nachgeborener, der dies nicht als Glück, sondern als Nachteil auffaßt, als einen Makel, der seine Phantasie immer um die Zeit vor seiner Geburt kreisen läßt und ihn mit Menschen verbindet, die von ihr gezeichnet sind.
Daß seine Familie nicht belastet ist, scheint ihn nicht zu beruhigen. Manchmal kommt es mir vor, als würde er sich ihrer schämen, weil sie höchstens Mitläufer aufzuweisen hat. Dabei ist er selbst zum Mitläufer einer Überlebenden der zweiten Generation geworden, die seinen künstlich vertieften Wunden, seinen manchmal vehement vorgetragenen Selbstvorwürfen häufig viel zuwenig Beachtung schenkt.
Jetzt gerät ihm Beate zwischen die Fänge, die am Tisch in der Bücherecke des Wohnzimmers sitzt und die Socken ihrer Kinder stopft. Sie gibt bereitwillig Auskunft über ihre Arbeit, und Stefan kriecht in sie hinein, saugt sie aus, läßt nicht locker, bis er alles erfahren hat, was sie über ihren Großvater mütterlicherseits, also den Schwiegervater Oskars, weiß. Der sei im Rheinland als Funktionär der KPD tätig gewesen, bis es dann Ende der zwanziger Jahre zur Abspaltung einer kleinen Splittergruppe alter, erfahrener Kader, die sich Kommunistische Partei Opposition nannten, gekommen sei.
Sie habe eine ihrer Tanten, die in der BRD lebt, auf seine Spur gesetzt, worauf sie ihr eine Kopie der Akten des Prozesses, der schließlich gegen ihn und seine Freunde geführt worden sei, und der Urteilsbegründung habe besorgen können. Ebenso habe ihr Vater zu einer Erweiterung des Wissens beigetragen, indem er ihr die Antworten eines noch lebenden Freundes des Großvaters auf einen von ihr erstellten Fragenkatalog aus Genf mitgebracht hat, die einzige Quelle zur Rekonstruktion von persönlichen Details.
Obwohl ihr Großvater wie viele der anerkannten Leitfiguren und Helden ein Opfer der Nazi-Herrschaft geworden sei, habe man seine Verdienste nie offiziell gewürdigt. In der Schule sei über die Mitglieder der KPO immer nur als Verräter und Kapitulanten gesprochen worden, was sie selbst einmal auch geglaubt habe. Wie ihre Mitschüler habe sie diese noch schlimmer als die Sozialdemokraten einzustufen gelernt.
Inzwischen sei sie aber zur Auffassung gelangt, ihr Großvater habe die Situation damals im Gegensatz zur offiziellen Parteilinie richtig eingeschätzt, besonders 1927, wo die KPD eine eigene Gewerkschaft gründen wollte, während die KPO für den Verbleib in der alten gewesen ist.
Beate legt das Nähzeug weg, erhebt sich, will uns etwas zeigen. Sie kommt mit einigen Schriftstücken aus dem Schlafzimmer zurück und breitet sie auf dem Tisch neben den Socken aus.
Die Anklage. Sie sei ungewöhnlich ausführlich in ihrer Begründung, sodaß daraus die Grundzüge des Lebens ihres Großvaters sichtbar würden. Er habe sehr rege für die KPO gearbeitet, Versammlungen in den Ortsgruppen des Bezirks Niederrhein abgehalten und die meisten Funktionäre persönlich gekannt. Die Anklage bezichtige ihn, vor der Wahl Ende Juli 1932 den Saalschutz für eine kommunistische Wahlveranstaltung organisiert und dazu einem Mitangeklagten eine Pistole übergeben zu haben. Deshalb sei er von Mai bis Dezember 1933 inhaftiert gewesen.
Als im darauffolgenden Jahr mehrere Funktionäre der KPO festgenommen worden seien, habe er sich für eine Wiedervereinigung mit der KPD eingesetzt, jedoch den demokratischen Zentralismus als in der Illegalität undurchführbar abgelehnt.
(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)
(Blick zum Nachbarn: B-08 PALME/RICHTEX, BAHNALOG)