D-01 FUTO OMOWAZU WATASHI
Zufall, unwillkürlich.
Vergitterte Fenster, Schottendecke.
Ich im Doppelbett, allein.
Tinnitus, Morgenlicht, Ankunft
im Tag wie im Schmerz,
der sich krachend löst.
Ich, noch beherzt,
von der Fahrt von da
nach dort, der Ankunft,
von der Zufallswahrnehmung
einiger japanischer Wörter.
Futo. Omowazu. Watashi.
Gerade hinsehend. Ohne es zu wollen. Ich.
Ich ist jetzt hier. Ich ist,
mich beherrschend, ein Pfiff, sehr leise,
ein zweiter, dritter, von oberhalb des Hauses.
Ich ist die weiß-rote Windhose,
an der sich der unbekannte Nachbar,
Vater von vier Kindern
immer orientiert hat,
bevor er über der Autobahn abstürzte.
Ich ist am Leben, er tot.
Ich spricht nicht französisch,
wie du: noch im Schlaf,
hier am See, oder in Zürich,
Hamburg. Was mich betrifft,
bist du absolut begehrenswürdig,
wie mir die Japanerin aus dem Buch zuflüstert.
Keine Frau im Ich, kein Ich
in den Frauen: der Schreiberin,
Hausbesitzerin, Schlaftüchtigen -
kein Schmarotzer in ihnen. Das heißt:
ich ist das andere, das Bett-
Fenster-Baum-gleiche Ich -
das sich nicht geschlechtlich fixieren läßt.
Ich ist, noch nicht wach, noch unsichtbar,
wie du, die sich jetzt in mir unwillkürlich
wahrnehmen wird - dreifaltig
(1999)
(Erschienen in: Friede den Männern, Residenz Verlag, 1982)
(Blick zum Nachbarn: Head fund 09.)
Dieses Gedicht, lieber Franz, entstand nach der Lektüre eines Artikels von Yoko Tawada, die damals in Hamburg lebte. „Sprachen bestehen aus Löchern“, schreibt sie. Es sei schwierig, etwas direkt zu übersetzen. Daher suche man Umschreibungen.
„futo“ holt das, was man beschreibt, in die Gegenwart der Wahrnehmung. Für „futo" werden im Wörterbuch alle möglichen Umschreibungen angeboten: „Als ich gerade hinsah...", „durch reinen Zufall..."; „ehe ich es bemerkte,...", „da fällt mir gerade ein...“ Es gibt im Deutschen kein kurzes Wort dafür, daß in einem besonderen Augenblick etwas ganz Alltägliches passiert, das sich aber daraus dadurch abhebt, daß man es plötzlich wahrnimmt.
Ein anderes Wort ist „omowazu“, auf Deutsch etwa „unwillkürlich“. Damit ist das Phänomen gemeint, daß der Körper handelt, ohne jemand eine Entscheidung getroffen hat. Du würdest vielleicht sagen: unbewußt, ohne es zu wollen, instinktiv, intuitiv, spontan.
Es geht auch um das Wort „ich“ im Japanischen, zum Beispiel in diesem einfachen, unendlich oft geäußerten Satz: „Ich liebe dich“, der häufig mit „Watashi wa anata ga suki desu“ umschrieben wird, wörtlich übersetzt: „Was mich betrifft, bist du begehrenswürdig“ – also weder „lieben“ noch „ich“ erscheinen darin.
Das leitet zur unterschiedlichen Rolle des Subjekts in den beiden Sprachen. Im Japanischen gibt es mehrere Wörter, mit denen man sich selbst bezeichnen kann: „atashi“ (als Bub), „boku“ (als Mädchen); „watashi“ (offiziell), „watakushi“ (sehr höflich): für beide Geschlechter; in Dialekten: „ona“, „wate“, „uchi“; „chen“ (Kaiser).
Meistens wird im Japanischen überhaupt kein Subjekt genannt, womit Tawada zufrieden zu sein scheint. Sie benützte, wenn sie unbedingt mußte: „kochi“, „diese Seite“! Erst mit zwanzig konnte sie das Wort „watashi“ annehmen, um sich selbst zu bezeichnen, weil es nicht auf das Geschlecht, sondern auf das Erwachsensein verweist.
Wie oft verwendest du an einem Tag „ich“? Für eine Japanerin oder einen Japaner ist das deutsche „ich“ ein Wunder, denn jeder kann es aussprechen, ohne daß es auf sein Geschlecht, sein Alter, seinen Status oder seine Biographie verweist.
(Mehr zu Yoko Tawada zum Beispiel hier.)