O-04 - IM KARST
weg von der Versammlung der Dichter, hoch über Triest
zum jugoslawischen Krieg im Gespräch, er ging, sagte er,
einfach weg, wie er es so oft vorher getan hatte, hinaus
(weg- und hinausgehen und über den Karst, weil es
schön ist, in der Nacht über den Karst, und keineswegs
Flucht), doch ich erinnerte mich nicht, jemals nachts weg-
gegangen zu sein, hinaus über den Karst, nur ein spitzer
Steinberg stand plötzlich vor mir, auf der Insel Krk, auf den ich
kletterte, während unter mir die Steine wegrutschten
in der Mittagshitze, ich ganz allein auf diesem Berg
auf der Insel Krk, und ich sah mich nicht mehr, wie ich
von oben hinabblickte, sehe aber jetzt, wie der Anrufer
hinausging in die Mondesfinsternis, weiterschritt
ohne Brille, die er im Haus zurückgelassen hatte, hoch
über Triest, und wie er geradewegs weiterging, als ob er
sein Ziel schon kennen würde, obwohl er es nicht kannte,
außer eben in die grauweiße Finsternis wegzugehen
und sich selbst, seinem Impuls vertrauend, ohne mit Spalten
zu rechnen, auch nicht mit dem Glück, das ihm hold war, dort
unten in irgendeinem Felsloch, wo ihn niemand vermutet hätte,
wobei er das Glück hatte, im Hinunterrollen das ganze Leben
abzuspulen, sodaß er auf dem kleinen Plateau, das ihn
vor dem weiteren Absturz rettete, bei seiner Geburt
angelangt war, wo seine Mutter, von der er sonst nie sprach,
sich als dunkle Gestalt abhob und ihn anspie und auslachte,
zugleich mit ihrer Zunge abschleckte, das blutige Leintuch
schwenkend, den Vater von ihm wegstieß, ihn mit Fußtritten
traktierend, zuletzt auf einen Haken neben der Tür hängte,
wo er erbärmlich litt, sich der Unwürdigkeit bezichtigte,
des Verdrängens, und sie, die Mutter, um Verzeihung bat
für all die Fehltritte, die nie wieder vorkommen würden -
nie im Leben, sagte er am Telefon, hätte er seine Eltern so
klar vor sich gesehen, wäre ihm nicht jener Fehltritt passiert,
der sich absichtslos ergab, aus diesem Wegwandern hinaus
in den nächtlichen Karst, wo er sich ganz unten im Moment
völlig unbeweglich eingeklemmt zwischen Felsbrocken
in der allergrößten Sprachnot vorfand, doch dankbar
für den Gedankenblitz, der ihm zeigte, wer von den Dichtern
hoch über Triest, ihn da unten erahnend, herausholen wird
(1995)
(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)
Trackback URL:
https://earichter.twoday.net/stories/o-04-im-karst/modTrackback