O-15 HYMNE AN DICH
oder eine, die ich in- und auswendig kenne.
Wie befremdlich: wir gingen nebeneinander,
und ich erkannte dich nicht.
Ich rief dich nicht an, vergaß
voller Absicht deine Telefonnummer.
Du erzähltest mir freiwillig deine Träume,
doch ich stieß mit Fragen nach, unerbittlich.
Deine Tränen amüsierten mich, ich schürte
den Mut zur Häßlichkeit, lobte zugleich
deine Ohren, Öhrchen: wenn du die Haare
oben hattest, Nadeln darin.
Riß sie aber immer wieder, wenn die Hand
den Polster verschob, stopfte sie, schon schlummernd,
in mich, erwachte mit ekligen Knäueln
auf der Zunge, Gewürge.
Wie oft erwartete ich neben dir den Schlaf,
zuckte zurück, wenn deine Zehen
zu bohren begannen, deine eisige Hand
sich zwischen die Beine schob, mich zwickte!
Ich konnte nur deine Zunge verdrehn,
meine Augen schließen, Belag auf Belag,
und das im Geruch nach Milch -
strömendes Euter, Lakenluft, brünstige.
Du wußtest, daß ich mit dem Schreiben
hinter dir her war: schrieb alles auf,
was du sagtest, tatst, nicht tatst, hättest
tun können, verbarg das Geschriebene,
kam aber in Gesprächen darauf zurück -
da lachtest du hell auf, mich verkleinernd,
die Mühe, die ich für dein Leben aufwandte,
sie sollte ja uns beide steigern, zu vergeistigten Dubletten!
Dann noch diese Statistiken, Tabellen,
die Vergleiche über Jahre gestatteten,
über Zeiten des Aufwachens, Einschlafens,
der Schlafdauer, Dauer von Tätigkeiten, Häufigkeit
des Verkehrs, Intensität, Hartnäckigkeit,
über Symbolismen, Andockversuche
an andere Leben in Gesellschaft und auch in der
Bettleseeinsamkeit. Und deine Manien!
Wanderaugen am Tisch, wischbereite Hände,
und Tadel für unwillkürliche Äußerungen,
Tadel für Furze, Rülpser, Flüssigkeiten
im Gesicht, klebrige Bodenstellen.
Dein Aberglaube: gabst dieses zu, jenes nicht,
Zählreime etwa, die so vieles abwenden konnten,
vorgestellte Hüpfbewegungen, auch die Anwesenheit
des Teufels, Genossen aus der Klosterschule, ironischen
Schattens über allem, Verdopplers, Verdünners,
Schlechtmachers, penetranten misanthropischen
Vaterverlängerers, Initiators der Liste deiner Phobien,
auf die du so stolz warst, die du noch ausbautest,
verbogst in eine fallweise rettende Lebensstruktur.
Tiere im Bett: alle hatten Namen, oft wechselnde,
konnten aus deinem Mund sprechen, mich auch
schlagen, in die Wange beißen, demütigen
zu Recht, wenn ich den Verweigerer hervorkehrte,
sardonische Seiten, Illusionen, poetisierende,
rohen Samengenuß. Nie kam meine Zunge dorthin,
wo du sie begehrtest. Nie hieltst du
so lange durch, bis ich wirklich zusammenbrach.
Ich fügte mich gern, verkörperte noch immer
den Wickelpolstermann, stocksteif, unansprechbar.
Irgendwann kam dann doch deine Hitze in mir hoch,
immer, wenn es zu spät war, mitten in deiner bleiernen
Müdigkeit oder in meiner kindischen Verhemmung.
Wer schenkte dir diesen schäbigen Männerpyjama?
Und woher kam dieser Stammbaum, der mich fast erschlug?
Riesenschachtel zwischen den Tellern auf dem Tisch.
Anstelle des Essens Zurückblättern in eine sehr schnell
angeeignete Familienvergangenheit: Geschenk
eines verrückten Archivars, aus der Manie
eines in Stalingrad Gefallenen mit Germanenüberschuß
in Blut und Hirn. Doch auf diesen Kopien
vereinigten sich unsere Namen schon vor Jahrhunderten
an einem noch nie betretenen tschechischen Grenzort.
Weder Treue noch Schicksal, weder Reue noch Spiel,
nur dieser idiotische Trost: wir könnten uns jederzeit wieder
an der Stelle treffen, wo wir, im Streit, aufeinanderstießen,
zum allerersten Mal: keine Sekunde vorher, keine danach
(Montag, 25.09.2000, 17.10)
(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)
ich stelle mir vor, mein partner würde ständig alles aufschreiben was ich sage und tue. müsste ich da nicht denken, der rückt mir ständig auf die haut, ich habe keinen freiraum?
zu viel der ehre, zu viel der aufmerksamkeit! für mich keine zeichen der liebe, sondern der kontrollsucht. ich dürfte keinen einzigen fehler begehen. alles würde bemerkt und notiert...
gibt es einen konflikt, wird er mich nicht aus dem gedächtnis zitieren, sondern aus seinem büchl. ich würde das natürlich nicht gewußt haben und er würde besserwisserisch auf mir herumhacken. und ich würde ihm diesen triumph nicht gönnen wollen..
abgesehen von allen anderen kriterien, die hier aufgezählt werden und die ich nicht erfüllen könnte...
vielleicht hat der autor auch etwas von diesem "verrückten archivar"...
Vielleicht helfen aus zweckmäßigen Gründen temporäre Übereinkünfte, ohne daß die Hintergrundabsichten deklariert werden. Nichts geht ohne Schmerzen ab, ohne Mißverständnisse, Veränderung der Gefühls- und Interessenlage. Leicht gerät ein „Partner“ ins Hintertreffen, das - scheinbare - Gleichgewicht hat sich verschoben, und schon entsteht ein Kampf zur Rückgewinnung der Machtverhältnisse.
Der „verrückte Archivar“ könnte auch die Ich-Figur selbst sein, so wie sie hier erscheint. Sie sorgt vor. Sie sieht den Bruch vorher und investiert in die Zukunft der Partnerlosigkeit. Sie wappnet sich mit Details, um den Schmerz des Verlassenseins ertragen zu können. Zugleich wird dieses genaue, mit allen Sinnen gespeicherte Mitwissen den Schmerz verstärken. Möglich, daß das in der Gegenwart der Beschwörung noch keine Rolle spielt.